Produktivität erklärt Einkommen nicht
5. Dezember 2019 | Blair Fix
Kennen Sie den Witz über Ökonomen, die ihre Theorie testeten, indem sie sie einfach als wahr definierten? Nun, das ist leider kein Witz. Es ist gängige Praxis. Mainstream-Ökonomen behaupten, dass Produktivität das Einkommen erkläre. Und »testen« dies, indem sie unter Rückgriff auf Einkommen Produktivität definieren.
In diesem Beitrag zeige ich diese zirkuläre Logik auf.
Theorie der Grenzproduktivität
Die Grenzproduktivitäts-Theorie der Einkommensverteilung entstand vor etwas mehr als einem Jahrhundert. Ihr wichtigster Schöpfer, John Bates Clark, stellte ausdrücklich klar, dass es bei seiner Theorie um Ideologie ging – und nicht um Wissenschaft. Er wollte zeigen, dass in kapitalistischen Gesellschaften jeder genau das bekam, was er produzierte, kapitalistische Gesellschaften also faire Gesellschaften seien:
Es ist der Zweck dieser Arbeit, zu zeigen, dass die Verteilung des Einkommens der Gesellschaft einem Naturgesetz folgt, und dass dieses Gesetz, wenn es reibungslos wirken kann, jedem Beteiligten an der Gesamtproduktion den Anteil am geschaffenen Reichtum zukommen lässt, den diese Person selbst schafft.
Clark stellte auch ausdrücklich klar, warum seine Theorie gebraucht wurde: Die Stabilität der kapitalistischen Ordnung stand auf dem Spiel! Er sagte:
Das Wohlergehen der arbeitenden Klassen hängt davon ab, ob sie viel oder wenig bekommen; aber ihre Haltung gegenüber anderen Klassen – und damit die gesellschaftliche Stabilität – hängt hauptsächlich von der Frage ab, ob die Menge (egal ob groß oder klein), die sie bekommen, dem entspricht, was sie produzieren. Wenn sie eine kleine Menge an Reichtum schaffen und diese kleine Menge vollständig erhalten, so versuchen sie wohl nicht, die Gesellschaft umzuwälzen; aber wenn es so aussieht, als würden sie eine große Menge produzieren und nur einen Teil davon erhalten, dann würden viele von ihnen zu Revolutionären werden, und alle hätten das Recht dazu.
Auf diese Weise kam die neoklassische Theorie der Einkommensverteilung als ideologische Antwort auf den Marxismus zur Welt. Laut Marx eignen sich die Kapitalisten einen Mehrwert an. Arbeiter erhalten ihm zufolge also weniger, als sie produzieren; sie erhalten weniger als das, was sie eigentlich erhalten sollten. Clarks Theorie der Grenzproduktivität zielte darauf ab, zu zeigen, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Sowohl Kapitalisten als auch Arbeiter, behauptete Clark, bekamen, was sie verdienten.
Die Botschaft dieser Theorie ist einfach: Die Arbeiter sollen sich mit ihrer Position zufriedengeben. Sie verdienen bereits das, was sie produzieren, so dass sie kein Recht haben, mehr zu verlangen.
Die Erweiterung um die Theorie des Humankapitals
Clark schuf die Theorie der Grenzproduktivität, um das klassenbasierte Einkommen zu erklären – die Einkommensaufteilung zwischen Arbeitern und Kapitalisten. Aber seine Theorie wurde schon bald auch verwendet, um Einkommensunterschiede zwischen Erwerbstätigen zu erklären.
Mitte des 20. Jahrhunderts erfanden neoklassische Ökonomen eine neue Form des Kapitals. Erwerbstätige, so behaupteten die Ökonomen, besäßen »Humankapital« – einen Bestand an Fähigkeiten und Wissen. Dieses Humankapital mache qualifizierte Arbeitskräfte produktiver, womit sie auch mehr Geld verdienten. So sollte die Produktivität nicht nur das klassenbasierte Einkommen erklären, sondern auch das persönliche Einkommen.
Mit der Humankapitaltheorie war in den 1960er Jahren die marginalistische Revolution in der Mainstream-Ökonomie abgeschlossen. Alle Einkommensunterschiede, so behaupteten Ökonomen, können mit Produktivitätsunterschieden verbunden werden. Und von da an entstand eine endlose Menge empirischer Arbeiten, die »bestätigten«, dass Produktivität das Einkommen erklärt.
Ein Problem: Wie können wir verschiedene Arbeitsergebnisse vergleichen?
Bevor wir uns ansehen, wie Ökonomen die Grenzproduktivitäts-Theorie »bestätigen«, müssen wir nochmal einen Schritt zurück machen. Wir müssen ein grundlegendes Problem des Konzeptes der Produktivität verstehen.
Stellen Sie sich vor, wir wollen die Produktivität eines Maisbauers mit der Produktivität eines Komponisten vergleichen. Der Maisbauer produziert Mais. Der Komponist produziert Musik. Wie können wir diese beiden Ergebnisse miteinander vergleichen?
Ich denke, es ist offensichtlich, dass wir das nicht objektiv tun können. Jeder Vergleich erfordert eine subjektive, nicht verallgemeinerbare Entscheidung darüber, wie man Mais und Musik in die gleiche Dimension bringt. Es ist einfach zu verstehen: Wir können die Produktivität von zwei Erwerbstätigen nicht objektiv vergleichen, wenn sie nicht dasselbe produzieren.
Dieses Problem untergräbt die Theorie der Grenzproduktivität massiv. Die Theorie behauptet ja, dass Produktivitätsunterschiede generell Einkommensunterschiede erklären. Aber wir können die Theorie niemals wirklich testen, denn Produktivitätsunterschiede lassen sich nicht mit allgemeinen, übergreifenden Maßstäben messen.
Schlimmer noch: Es ist möglich, Einkommen zu erzielen, ohne überhaupt etwas zu produzieren. Denken Sie an die Praxis des Patent-Trollens. Patent-Trolle sind Menschen, die das Patent für ein Produkt kaufen, das sie weder erfunden noch hergestellt haben. Diese Individuen »produzieren« nichts. Aber sie verdienen trotzdem Geld. Wie? Weil sie die Regierung dazu bringen, ihre Eigentumsrechte durchzusetzen. Patent-Trolle verklagen (oder drohen nur zu verklagen) jeden, der ihr Patent verletzt. Sie verdienen Einkommen, ohne etwas zu produzieren.
Zusammengefasst ist festzuhalten: Wir können die Produktivität von Menschen, die unterschiedliche Dinge produzieren, nicht vergleichen. Und einige Leute »produzieren« sogar überhaupt nichts. Dieses Problem schränkt die Möglichkeiten, die Grenzproduktivitäts-Theorie zu testen, stark ein.
Der Taschenspielertrick der Ökonomen: Definition der Produktivität über das Einkommen
Angesichts der Probleme beim Vergleich der Produktivität von Erwerbstätigen mit unterschiedlichen Arbeitsprodukten sollte man meinen, dass die Grenzproduktivitäts-Theorie längst tot wäre. Schließlich ist eine Theorie, die nicht getestet werden kann, wissenschaftlich nutzlos. Glücklicherweise (für sie selbst) spielen neoklassische Ökonomen aber nicht nach den normalen Regeln der Wissenschaft. Wenn Sie ökonomische Literatur durchstöbern, werden Sie endlos viele Studien finden, die behaupten, dass Produktivitäten die Löhne bestimmen. Sehen Sie dann genauer hin, so stoßen Sie auf einen Trick, der es ermöglicht, Produktivitäten verschiedener Menschen mit allgemeinen, übergreifenden Maßstäben zu vergleichen. Und noch besser: Dieser Trick garantiert, dass das Einkommen proportional zur Produktivität ist.
Um diesen Trick zu verstehen, müssen wir einen Blick in die Buchhaltung werfen. Abbildung 1 zeigt, wie ein Unternehmen seine Einnahmen aufteilt. Die Firma erwirtschaftet solche Einnahmen als Umsätze in Form von Verkäufen (rechts). Ein Teil dieser Einnahmen wird den Eigentümern des Unternehmens als »Gewinne« (»profits«) und ein Teil den Beschäftigten als »Lohn« (»wages«) ausgezahlt. Der Rest geht an andere Unternehmen – als »Nicht-Arbeitskosten« (»non-labor costs«) etwa für Rohstoffe und Vorleistungen.
Abbildung 1: Die Aufteilung der Einnahmen eines Unternehmens in Gewinne und Löhne
Die Einnahmen auf der rechten Seite (Umsätze) sind die Quelle der Einkommen auf der linken Seite (Gewinne und Löhne). Größere Einnahmen rechts bedeutet also größere Einkommen links. So werden die Einnahmen pro Mitarbeiter mit den Löhnen korrelieren. Und das müssen sie auch – es ist schlichtes buchhalterisches Einmaleins. Das also ist der Trick der neoklassischen Ökonomie: Um ihre Theorie zu »testen«, definiert sie »Produktivität« einfach, indem sie sie auf Einnahmen bezieht! Und sie unterstellt, dass die Einnahmen eines Unternehmens seine »Leistung« anzeigen.
Abbildung 2: Neoklassische Ökonomie nimmt die Einnahmen eines Unternehmens und dreht ihre Richtung, definiert Umsätze als Output – fertig ist der Taschenspielertrick [1]
Mit diesem Taschenspielertrick können wir endlos bestätigen, dass Produktivität das Einkommen »erklärt«. Wir stellen fest, dass die Produktivität – gemessen am Umsatz pro Mitarbeiter – stark mit den Löhnen korreliert ist. Dafür müssen wir nur vergessen, dass es sich um eine buchhalterische Binsenweisheit handelt. Verkäufe sind keine »Einnahmen« mehr. Die Verkäufe sind nun »Output«. Und dieser »Output« erklärt auf wundersame Weise die Löhne! Ich wünschte, ich könnte sagen, dass dies ein Witz ist. Aber das ist es nicht.
Die Vorstellung, dass Einkommen durch Produktivität verursacht wird, ist eine Sackgasse. Die Grenzproduktivitäts-Theorie kann nur überdauern, weil Ökonomen sie niemals objektiv testen. Stattdessen greifen sie auf den beschriebenen Taschenspielertrick zurück. Sie messen die Produktivität anhand von Einnahmen und behaupten, dass dies ihre Theorie »bestätigt«. Aber wir sollten kein Blatt vor den Mund nehmen: Die Grenzproduktivitäts-Theorie ist ein Gedankenvirus, der eine wirklich wissenschaftliche Analyse des Einkommens sabotiert. Es muss sterben.
Anmerkung
[1] Eine Variante ist auch, dass Ökonomen Sachkosten vom Umsatz abziehen, um die Wertschöpfung zu berechnen. Sie behaupten dann, dass die Wertschöpfung den Output misst. Das ist aber der gleiche Taschenspielertrick, da er immer noch einen Einkommensstrom in einen »Output« umwandelt.
Der Artikel erschien zuerst in einer längeren, englischsprachigen Fassung auf dem Blog ▸»Economics from the Top Down«. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung. Ãœbersetzung: Patrick Schreiner. | Siehe auch den Nachfolge-Artikel ▸https://www.blickpunkt-wiso.de/post/produktivitaet-erklaert-loehne-nicht--2340.html
Blair Fix ist ein politischer Ökonom aus Kanada mit besonderem Interesse am Energiesektor und an Einkommensungleichheit.