"Pulse of Europe": Voll auf Europa
1. Juni 2017 | Sebastian Friedrich
Regelmäßig versammeln sich Zehntausende bei den Kundgebungen von »Pulse of Europe« - ein Besuch.
Sonntag, 14 Uhr - es ist Zeit für die »Pulse of Europe«-Bewegung. Seit einigen Monaten treffen sich einmal die Woche Menschen, um einen Beitrag für ein »vereintes, demokratisches Europa« zu leisten, wie auf der Homepage der Initiative zu lesen ist. Die Kundgebungen ziehen mittlerweile in mehr als 90 Städten mehrere Zehntausend Menschen an. Auch an diesem ersten Sonntag im April sind es auf dem Hamburger Rathausmarkt mehr als in den Wochen zuvor.
Mit dabei ist auch Arne, ein weißhaariger Mann mit grüner Outdoor-Jacke und gelbem Fahrradhelm. Er freut sich vor allem auf die La-Ola-Welle, mit der die Kundgebungen in Hamburg häufig abgeschlossen werden: »Das war so schön letzte Woche.« Er hat Angst um den Zusammenhalt in Europa. So wie wohl die meisten der Anwesenden. Der pensionierte Lehrer teilt mit den anderen, die hier stehen, noch etwas: »Die Proteste sprechen vor allem jene Menschen an, die vom Status-Quo-Europa profitieren: international Orientierte, besser Gebildete und besser Verdienende«, sagte der Soziologe Simon Teune von der Technischen Universität Berlin Mitte März.
Offenbar besitzen viele Menschen eine Europaflagge. Die zwölf gelben Sterne auf azurblauem Grund werden auf dem Rathausmarkt fleißig geschwenkt. Die Organisator_innen helfen ein bisschen nach und verteilen Europaluftballons und kleine Europafähnchen. Hier sehr beliebt: der Flaggenumhang. Auch Benjamin trägt seine Europaflagge heute so. Er, um die 30 Jahre alt, ist bei den Grünen aktiv und möchte die Idee von Europa verteidigen, »gerade jetzt, nach dem Brexit«, wie er sagt. Bei der Frage, was ihn an Europa begeistert, muss er nicht lange überlegen: offene Grenzen, die gleiche Währung, besonders praktisch beim Reisen. Klar, es gebe Probleme in Europa, aber dafür sei nicht die EU verantwortlich. Auf die Frage, wie er denn zum europäischen Grenzregime oder der Austeritätspolitik der EU stehe, antwortet er: Diese Probleme gäbe es auch ohne die EU. »Griechenland hat jahrelang falsch gewirtschaftet, daran ist nicht die EU schuld.« Zum Grenzregime sagt er nichts.
Nie wieder Krieg
Auf einer Art Bühne steht mit einem Mikro in der Hand einer der Initiatoren. Alexander Münch ist Ende 30 und Rechtsanwalt mit einer Kanzlei in der Mönckebergstraße, einer der Haupteinkaufsstraßen Hamburgs. Er verliest die zehn »Grundthesen« von Pulse of Europe. Sie sind sehr allgemein gehalten. So heißt es etwa, Europa dürfe nicht scheitern, der Friede sei gefährdet, Reformen seien notwendig, die europäischen Grundfreiheiten nicht verhandelbar. Die Thesen stammen von den Initiatoren. Dreh- und Angelpunkt von Pulse of Europe ist Daniel Röder. Wenn der Rechtsanwalt, Mediator und Konfliktcoach bei den Kundgebungen in Frankfurt am Main von Europa und den Problemen redet, scheint es keine fundamentalen Interessengegensätze zu geben, sondern lediglich verhärtete Konflikte, die durch eine gute Kommunikation gelöst werden könnten. Frankfurt ist das Herzstück der Bewegung, von dort aus werden die Kundgebungen koordiniert. Interessierte können sich bei Pulse of Europe melden, bekommen dann einen Leitfaden, wie die Kundgebungen zu organisieren sind, eine Übersicht über die wichtigsten Standpunkte und die Anweisung, die Kundgebung bei der Polizei anzumelden.
Es ist ein sehr niedrigschwelliges Angebot, das breit genutzt wird. Die Grundthesen unterstützt auch Kundgebungsbesucher Jens. Er ist FDP-Mitglied und aktiv bei den Jungen Liberalen. Es sei jetzt an der Zeit, Verantwortung zu übernehmen, sagt er. Das gelte auch für die Flüchtlingspolitik. Natürlich spreche er sich für Migration aus, allerdings für eine geregelte Migrationspolitik, die zwischen »denen, die wir brauchen, und denen, die wir nicht brauchen«, trenne.
Die älteren Menschen bewegt vor allem ein Thema: Frieden. Am deutlichsten wird das bei einigen der Reden beim offenen Mikrofon. Ein über 90-Jähriger, der im Zweiten Weltkrieg als Soldat kämpfte, möchte nie wieder Krieg erleben und versteht sich deshalb als Europäer. Tosender Applaus. Ein weiterer Redner stellt sich als »Psychosomat« vor - und präsentiert seine Analyse der Weltlage. Putin, Erdogan und Co. seien schlecht gelaunte Matschbirnen, ihnen müsse man ein Lächeln entgegensetzen. Großer Applaus. Die blaugelbe Wohlfühlstimmung wird noch besser, als jemand auf dem Gebäude der Alten Post während der Kundgebung die Hamburg-Fahne einholt und dafür die Europaflagge hisst.
In Stil und Inhalt erinnert die Kundgebung an so manchen Lehrer, der den Schüler_innen im Gemeinschaftskundeunterricht Lust auf die Demokratie machen wollte, der vom Grundgesetz und den ganzen Freiheiten schwärmte, während die Zuhörenden reihenweise einschliefen oder dem rettenden Schulgong entgegenfieberten. Dennoch: Einige Linke plädieren dafür, Pulse of Europe nicht einfach zu verdammen, sondern sich einzubringen, zu »intervenieren«. So etwa Sebastian Weiermann in der Jungle World (6.4.). Abstrus findet Weiermann etwa die Schlussfolgerung, der Neoliberalismus stecke hinter der Initiative. Es ist aber nicht abwegig, die Forderungen der Bewegung als neoliberal zu beschrieben. Das hat etwa Ralf Krämer in der Tageszeitung neues deutschland (nd) deutlich gemacht. (31.3.) Die These, die europäischen Grundfreiheiten seien nicht verhandelbar, seien »ziemlich purer Neoliberalismus«. Personenfreizügigkeit, freier Warenverkehr, Kapitalverkehrsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit bringen eben nicht für alle Menschen in und außerhalb Europas Wohlstand und Freiheit, wie Pulse of Europe behauptet. Nicht zufällig ist Pulse of Europe in erster Linie ein deutsches Mittelklassen-Phänomen, auch wenn es vergleichbare Mobilsierungen in Großbritannien nach dem Brexit-Votum gab. Fast alle Pulse-of-Europe-Kundgebungen finden hierzulande statt. Zehntausende, die mit Europaflaggen auf den Plätzen in Südeuropa herumstehen: schwer vorstellbar.
In Zeiten des Abwehrkampfes
Doch es sind nicht nur beinharte Neoliberale, die sich auf dem Rathausmarkt versammeln. Bina ist skeptisch, sie will sich aber trotzdem mal ein Bild von der Veranstaltung machen. Inhaltlich sei bisher wenig gekommen von der Bewegung. Überhaupt, ein bloßes Hurra-Europa sei ihr zu wenig. Auch ihr Mann Michael brennt nicht gerade für Pulse of Europe. Allerdings sei jetzt eben nicht die Zeit für Utopien. Es gehe darum, das Rollback aufzuhalten. »Man kann froh sein, wenn man den Parlamentarismus mit der Gewaltenteilung aktuell erhalten kann.« Er sagt auch: Wenn es etwas anderes gäbe, würden sie da mitmachen.
Man ist versucht, Sonja Buckel zuzustimmen, die ebenfalls im nd schrieb, Pulse of Europe sei in Zeiten eines erstarkenden Rechtsradikalismus bis hin zu Rechtsterrorismus eher gut als schlecht. Doch stimmt das? Ist es so - wie Buckel schreibt -, dass die Initiative die Rahmenbedingungen für »ein eigenes strategisches Projekt einer queerfeministischen, antikapitalistischen, antirassistischen, ökologischen Bewegung« verbessert? Ja, auf den Pulse of Europe-Demos stehen Links- und Neoliberale nebeneinander in der obligatorischen Menschenkette. Nur: Das Linksliberale ist höchstens sichtbar auf den FCK-NZS-Rucksäcken mancher jüngerer Teilnehmer_innen, hörbar in den Beiträgen ist es nicht. Bei Pulse of Europe hört man nichts zu Austeritätspolitik, zum Grenzregime, zur Militarisierung Europas oder Agrarexporten. Es ist auch keine Rede von einem »sozialen Europa« oder einem »Sozialstaat Europa«, wovon einst Linksliberale und Sozialdemokrat_innen träumten.
Plötzlich greift sich doch noch ein Teilnehmer das Mikrofon, der dieses Thema anspricht. Die Armut der Menschen habe nichts mit Flüchtlingen zu tun, sagt er. Pause, wenig Applaus. Er kritisiert die mörderische europäische Außengrenze. Schweigen. Und er macht für den Aufstieg Trumps die soziale Spaltung in der US-amerikanischen Gesellschaft verantwortlich. Zwei Menschen klatschen.
Auch deshalb ist Malte skeptisch, der sich am Rand der Kundgebung aufhält. Er sei hier, um sich mal anzusehen, was gerade von Medien und Politik so positiv aufgenommen wird. Sein Eindruck ist nicht besonders positiv: Er sei aus Recherchezwecken auch schon bei AfD-Kundgebungen gewesen. Die seien zwar schlimmer und auch beängstigend gewesen, aber die Kundgebung am Rathausplatz ist für ihn nicht viel mehr als die andere Seite der gleichen Medaille. »Die einen schreien gegen die Eliten, die uns verarschen, womit sie Recht haben, und hetzen gleichzeitig gegen Ausländer. Die Leute hier haben aber außer Jubel für Europa nichts zu den Problemen der meisten Menschen zu sagen.«
Am Schluss singen alle »Freude, schöner Götterfunken« und stellen sich an den Rand des Platzes für die ersehnte La-Ola-Welle. Sie geht viermal rum. Die Teilnehmer_innen klatschen und machen ordentlich Lärm mit ihren Fahrradklingeln.
Dieser Artikel erschien zuerst in analyse&kritik 626 (2017). Wir danken für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung. Dieser Text ist von der CC-Lizenz gemäß Impressum ausgeschlossen; das Zitieren und das Verlinken des Textes ist erlaubt, nicht aber das Vervielfältigen/Kopieren.
Sebastian Friedrich ist Journalist und Publizist aus Hamburg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Sozialstaatsdiskurse, Neue Rechte, AfD, Kritische Soziale Arbeit, Diskursanalyse sowie Klassenanalyse. Als @formelfriedrich twittert er regelmäßig. Seine Homepage: sebastian-friedrich.net.