Regulierung im gesellschaftlichen Interesse statt „Better Regulation“
13. Juni 2016 | Uwe Wötzel
Unter dem Deckmantel „Bessere Rechtssetzung“ oder „Bürokratieabbau“ werden seit Jahrzehnten Angriffe auf soziale und ökologische Standards gefahren. Der Beitrag beleuchtet dieses Anfang der 1980er Jahre begonnene Treiben und fordert Engagement und Konzeptionen für Alternativen.
Die Begrifflichkeit von der „Deregulierung der Märkte“ hat in der Öffentlichkeit zunehmend den Geruch des Bösen, des Neoliberalismus bekommen. Zurecht, denn seit spätestens seit der Gründung von attac (1998) und dem Widerstand gegen die WTO-Konferenz in Seattle (1999) ist eine globalisierungskritische Bewegung im öffentlichen Diskurs mit zunehmender Kritik an der marktradikalen Ausrichtung der Regulierung des globalen Kapitalismus wahrnehmbar. Neoliberale Akteure entwickelten deshalb einen orwellschen Neusprech mit Begriffen, die den wahren Charakter ihrer Vorhaben verschleiern und ihnen ein schönes Image, ein attraktiveres Denk- und Sprachhaus verpassen: „Better Regulation“, „Smarter Regulation“, „Fitness-Check“. Die EU-Kommission will entsprechend ihrer marktliberalen Grundausrichtung Gesetzgebungsprozesse oder Handelsabkommen verändern. Erstmals ist in der EU-Kommission unter Jean-Claude Junker mit dem Niederländer Frans Timmermanns ein Vizepräsident für „Smart Regulation“ zuständig. Doch hinter diesen wohlklingenden Wörtern verbergen sich kontinuierlich deutliche Angriffe auf die Rechte der Beschäftigten und Verbraucher*innen sowie auf den Umweltschutz.
Bundeswirtschaftsminister Gabriel kündigte Ende Mai 2016 in einer gemeinsamen Erklärung mit den großen Wirtschaftsverbänden ein zweites Bürokratieentlastungsgesetz an. Zwischen nationalen und EU-Projekten bestehen enge inhaltliche Verbindungen. Im Mai 2014 verkündete die Europäische Kommission die Rücknahme von 53 Gesetzesvorhaben. Damit sollte sichtbar der Prüfung der Gesetzgebung auf „Effizienz und Leistungsfähigkeit“ im Rahmen des so genannten REFIT-Programms Rechnung getragen werden. Stärker sichtbar wurde die Ausrichtung der EU-Politik an dem Arbeitsprogramm der EU-Kommission für 2015, in dem 73 Legislativvorschläge zurückgezogen wurden. Seit der Initiative des REFIT-Programms (Regulatory Fitness and Performance Programme) im Dezember 2012 hat die EU-Kommission damit mittlerweile 126 Gesetzesvorhaben zurückgezogen, darunter die EU-Bodenschutzrahmenrichtlinie und die Richtlinie zum Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten. Umweltverbände hatten mehrfach ihre Besorgnis über den Deregulierungsvorstoß der Kommission geäußert, da dieser das Vorsorgeprinzip aufweiche.
Im April 2016 kam es zu einer Interinstitutionellen Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat der Europäischen Union und der Europäischen Kommission über bessere Rechtsetzung. Dort heißt es unter Ziffer 48:
Die drei Organe kommen überein, im Hinblick auf die Aktualisierung und Vereinfachung der Rechtsvorschriften und auf die Vermeidung von Überregulierung und Verwaltungsaufwand für Bürger, Verwaltungen und Unternehmen, einschließlich KMU, zusammenzuarbeiten und dabei zu gewährleisten, dass die mit den Rechtsvorschriften verfolgten Ziele erreicht werden. In diesem Zusammenhang verständigen sich die drei Organe darauf, vor der Fertigstellung des Arbeitsprogramms der Kommission einen Gedankenaustausch über dieses Thema zu führen. Die Kommission sagt zu, als Beitrag zu ihrem Programm zur Gewährleistung der Effizienz und Leistungsfähigkeit der Rechtsetzung (REFIT) jährlich einen Überblick – einschließlich einer jährlichen Aufwandserhebung – über die Ergebnisse der Bemühungen der Union zur Vereinfachung der Rechtsvorschriften und zur Vermeidung von Überregulierung sowie zur Verringerung des Verwaltungsaufwands vorzulegen. Auf der Grundlage der Folgenabschätzungs- und Evaluierungsarbeiten der Organe und der Beiträge der Mitgliedstaaten und der Interessenvertreter wird die Kommission unter Berücksichtigung der Kosten und des Nutzens der Regulierung durch die Union das mit den einzelnen Vorschlägen oder Rechtsakten verbundene Potenzial für die Verringerung des Regulierungsaufwands oder für Einsparungen quantifizieren, wann immer dies möglich ist. Die Kommission wird ferner bewerten, ob es durchführbar ist, in REFIT Ziele für die Aufwandsverringerung in einzelnen Sektoren festzulegen.
Die EU-Kommission hat die REFIT-Plattform eingerichtet, „um mit den dadurch gewonnenen Erkenntnissen das EU-Recht einfacher, effizienter und wirksamer zu gestalten“. Untersuchungen des Corporate Europe Observatory zum Lobbyismus in Brüssel offenbaren die Macht und den Einfluss von Kapitalinteressen, die Regulierung in der EU beeinflussen. Die kritische Auseinandersetzung mit TTIP hat deutliche Zusammenhänge zwischen dem Lobbyismus der Wirtschaft auf die EU-Institutionen enthüllt. Apropos TTIP.  TTIP, CETA und TiSA selbst sind große, transnationale Projekte im Interesse der Investoren und ihrer Unternehmen.  Unter dem Vorwand des Abbaus von Bürokratie und sogenannten Handelshemmnissen sollen die Abkommen die Deregulierung der Märkte als primäres Ziel verfolgen und dauerhaft sichern.
DGB: Bürokratie-Abbau als Vorwand für Abbau von Arbeits- und Sozialstandards
Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann formulierte in einem Beitrag für die Frankfurter Rundschau (17.05.2015) unter anderem folgende Kritik:
Während der „Fitnesschecks“ sind notwendige Reformen ausgesetzt worden, etwa im Arbeitsschutz. 2008 hatte die Kommission einen Reformvorschlag für die Mutterschutzrichtlinie vorgelegt, die erste seit ihrer Verabschiedung 1992. Die Mutterschutzzeit sollte von 14 auf 18 Wochen verlängert werden, bei Fortzahlung des vollen Lohns oder Krankengeldes. Nach Ende des Mutterschutzes sollten Frauen das Recht haben, flexiblere Arbeitszeitgestaltung bei ihrem Arbeitgeber zu beantragen. Nach sieben Jahren Stillstand droht die Kommission nun, ihren eigenen Vorschlag zurückzuziehen. Zeitgemäßer Mutterschutz – nicht fit für Europa? Auch die Reform der Krebsrichtlinie liegt auf Eis, und das kostet buchstäblich Menschenleben: Krebs verursacht mehr als die Hälfte aller berufsbedingten Todesfälle, in der EU sterben jährlich 100 000 Menschen daran. Die aktuelle Richtlinie ist veraltet, sie deckt nur 20 Prozent der realen Arbeitssituationen ab, in denen Beschäftigte mit krebserregenden Stoffen in Berührung kommen. Der gesetzliche Rahmen muss dringend aktualisiert werden, mehr Gefahrstoffe umfassen und Verstöße sanktionieren, denn diese Regeln sind die Grundlage für umfassende Gesundheitsvorsorge und mehr Kontrollen. Aber auch diese Reform verschleppt die Kommission mit Hinweis auf REFIT. In einem wohl einmaligen Vorgang haben die Arbeitsminister von Deutschland, Österreich, Belgien und den Niederlanden im März 2014 einen gemeinsamen Appell an die Kommission gerichtet, endlich zu handeln. Bislang ohne Erfolg. Auch die Mitbestimmungsrechte stehen zur Disposition. Drei Richtlinien, in denen es um Mindeststandards bei Information und Konsultation von Beschäftigten geht, unter anderem bei Massenentlassungen und Unternehmensübergängen, sollen erneut überprüft werden.
Vorgeschichte: Angriffe auf demokratische Reformen und nachfrageorientierte Politik
Die „Bürokratie-Abbau“-Politik hat eine Vorgeschichte und zeigt die Traditionen massiver politischer Lobby-Einflüsse auf die Regierungspolitik. Im September 1982 beschleunigte der FDP-Politiker und damalige Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff mit einer neoliberalen Agenda das Ende der sozial-liberalen Koalition und forderte, die Politik müsse sich auf „Festlegung und Durchsetzung einer überzeugenden marktwirtschaftlichen Politik in allen Bereichen staatlichen Handelns mit einer klaren Absage an Bürokratisierung…“ konzentrieren. Krisenursache und Feindbild wurden klar beschrieben: Auf den Schutz der Arbeitnehmer ausgerichtete Rechtsregeln am Arbeitsmarkt führen zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit sowie zu Wachstums- und Wohlfahrtsverlusten, sie lösen sogar eine Geldentwertung aus. Deshalb ist eine „Entfesselung der Marktkräfte" auch auf den Arbeitsmärkten, und zwar durch Deregulierung, das heißt den Abbau des bisherigen Regelwerkes erforderlich. Die Deregulierung geht bestimmten Interessengruppen nicht weit genug: „Globalisierung und demographische Entwicklung verändern die Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns. Dafür seien wir nach Auffassung der Stiftung Marktwirtschaft nicht ausreichend gerüstet: Unser Arbeitsmarkt ist blockiert und verhindert Wachstum, die Kosten der sozialen Sicherungssysteme überfordern uns schon heute und staatliche Eingriffe hemmen in vielen Lebensbereichen Dynamik und Eigeninitiative.“ Jürgen Donges beschreibt für die Homepage der Konrad-Adenauer-Stiftung die Zielsetzung:
Deregulierung ist Politik der Marktöffnung. Durch sie werden spezielle Regulierungen beseitigt, die der Staat oder – mit dessen Einverständnis – Verbände und berufsständische Organisationen zugunsten bestimmter Gruppen von Erwerbstätigen eingeführt haben...
Alternativen zur neoliberalen Bürokratie?
Aus folgenden Gründen müssen wir Bürokratie-Debatten aufmerksam, kritische und mit Interventionen begleiten:
- Die gesetzliche Grundlage des Normenkontrollrates zum Bürokratieabbau bestimmt das rein betriebswirtschaftliche Standardkosten-Modell zur Basismethode. Eine volkswirtschaftliche und soziale Politikfolgenabschätzung fehlt bereits im Ansatz.
- Diese Vorstellung vom Bürokratieabbau beruht auf der Fiktion, dass bisher alle Unternehmen ihre Berichtspflichten pünktlich und umfassend erfüllt haben und darauf, dass eine Verringerung oder eine Vereinfachung der Berichtspflichten nicht zu einer Gefährdung der gesetzlichen Ziele führt.
- Für die Bereiche der Mitbestimmung, des Umweltschutzes und des Arbeitsschutzes lässt sich feststellen, dass diese Fiktion realitätsfern ist. In diesen Regelungsbereichen besteht eine Kluft zwischen Rechtsanspruch und geübter Praxis. Oft sind Umweltämter oder Gewerbeaufsichtsämter wegen personeller Unterbesetzung nicht in der Lage, Berichte zu prüfen.
- Die Ersetzung von Regulierung, von Berichtspflichten und Kontrollen durch freiwillige Selbstverpflichtungen schwächt den demokratischen Rechtsstaat und die Sicherheit der Menschen.
- Der Verzicht oder die extreme Verkürzung von Genehmigungsverfahren für den Betrieb von Anlagen oder Infrastruktureinrichtungen schränkt Bürgerbeteiligung, die Beachtung von sozialen und ökologischen Gesichtspunkten und demokratische Entscheidungsprozesse ganz oder teilweise ein.
Die Auseinandersetzung mit Bürokratie und Bürokratieabbau braucht in der kritischen Wissenschaft und Politik mehr Aufmerksamkeit, Reflexion und Engagement. Während die Risiken der Deregulierung der Märkte auch infolge der schweren Krise seit 2008 allgemein und in verschiedenen Politikfeldern (Finanzmärkte, Handelspolitik, Umwelt- und Arbeitsschutz) stärker thematisiert werden, sind Debatten zu den Agenden des Bürokratieabbaus unterbelichtet. Quasi im Schatten des Krisenmanagements werden unter dem scheinbar schönen Label „Bürokratieabbau“ ständig neue Deregulierungen ausgeheckt. Bürokratieabbau ist ein politisches Täuschungsmanöver,
denn es ging dem Neoliberalismus nie um ein Mehr oder Weniger von Regeln, sondern immer nur um andere Regeln, etwa solche, die Banken erlaubten, sich zu großen, „systemrelevanten“ Finanzkonzernen zusammenzuschließen, zu bürokratischen, die Grenzen zwischen staatlichen und privaten Akteuren aufhebenden Herrschaftskomplexen,
schreibt David Graeber in seinem Buch „Bürokratie“ (2016).
„Demokratische Regulierung der Wirtschaft und Verwaltungsmodernisierung im gesellschaftlichen Interesse“ könnte der Arbeitstitel für theoretische und praktische Projekte der konkreten Auseinandersetzung und Alternativen sein. Dabei geht es um nicht weniger, als um die Reflexion der politischen Funktionen des Staates und seiner Administration zum Schutz einer demokratischen sozial-ökologischen und rechtsstaatlichen Wirtschaftsordnung. Die Bedeutung dieser Frage wächst erkennbar, denn politische Regulierung, demokratische Legitimation und gesellschaftliche Akzeptanz fallen auseinander und finden einen Ausdruck in Verdrossenheit gegenüber zentralen Elementen der Regierungspolitik sowie in den Erfolgen nationalistischer und rechtspopulistischer Kräfte. Zu den Ursachen zählt auch die intransparente Lobby- und Exekutiv-lastige Anlage und Ausformung der Gesetzgebungsprozesse in der EU. Beachtung braucht auch die deutliche Monopolisierung von markt- und politikrelevanter Wissensmacht in den Zentralen von Google, Facebook und Microsoft. Es geht um demokratische und dezentrale Strukturen, um die Respektierung, den Schutz und die Gewährleistung der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Rechte aller Menschen im alltäglichen Leben. Stichworte dafür existieren in deutlichen Umrissen: Demokratisierung, Allgemeinwohl-Bindung, Bürgerhaushalt, Digitalisierung und Informationsfreiheit, Transformation, gute Arbeit und erweiterte Mitbestimmung, Wirtschafts- und Sozialräte. Gewerkschaften sollten ein solches Projekt aktiv mitgestalten.
Übersicht zu bisherigen Bürokratieabbau-Agenden:
- 1983 – 1998: Unabhängige Kommission für Rechts- und Verwaltungsvereinfachung („Bundesvereinfachungskommission“)
- 1988 – 1990: Unabhängige Expertenkommission zum Abbau marktwidriger Regulierungen („Donges-Kommission“)
- 1994/1995: Unabhängige Expertenkommission zur Vereinfachung von Planungs- und Genehmigungsverfahren („Schlichter-Kommission“ einschließlich „Ludewig-Arbeitsgruppe“)
- 1995 – 1997: Sachverständigenrat „Schlanker Staat“ („Scholz-Kommission“)
- 1997/1998: „Lenkungsausschuss Verwaltungsorganisation“ des Bundesinnenministeriums
- 1999 – 2002: „Moderner Staat – moderne Verwaltung, Initiative Bürokratieabbau“ der Bundesregierung
- 2003: Agenda 2010, Innovationsregionen für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung durch Deregulierung und Entbürokratisierung
- 2005/2006: Regierungsprogramm „Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung“, im Bundeskanzleramt ist die Geschäftsstelle Bürokratieabbau eingerichtet.
- 2006: Das „Gesetz zur Einrichtung eines Nationalen Normenkontrollrates“ institutionalisiert den Bürokratieabbau. Der Gesetzentwurf wurde unter Mitwirkung Bertelsmann-Stiftung und der privaten Fachhochschule des Mittelstands entwickelt.
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Uwe Wötzel (geboren 1956 in Hannover) ist Jurist und hauptamtlicher Gewerkschafter. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählt die Regulierung der Unternehmensverantwortung, er ist Mitbegründer des CorA-Netzwerks für Unternehmensverantwortung.