Rezension
Retrotopia
12. Juli 2018 | Peter Walerowski
Der 2017 verstorbene Soziologe Zygmunt Bauman fragt in seinem posthum veröffentlichten Buch: Rückwärtsgewandte Ideologien als Heilsbringer für die Zukunft - wie konnte das passieren?
Um es gleich am Anfang zu sagen: Mut macht Zygmunt Bauman mit seinem letzten Werk »Retrotopia« nicht. Retrotopia beschreibt die Entwicklungen und Tendenzen globalisierter Gesellschaften, die im Verlust eines allgemeinen Sicherheitsgefühls und angesichts zunehmender Gewalt Rückgriffe auf vergangene und überwunden geglaubte Konzepte tätigen. In der Umkehrung des Utopiegedankens suchen sie Fortschritt nicht mehr in der Zukunft, sondern in »der verlorenen, geraubten, verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit« (S. 15). In seiner Analyse rückwärtsgewandter Visionen, die das globale Denken befallen haben, legt Bauman die Strukturen des weltweit agierenden Neoliberalismus schonungslos frei. Er verzichtet dabei auf explizite Kapitalismuskritik, wohl wissend, dass diese seiner Untersuchung quasi als Subtext innewohnt. Sein Augenmerk gilt den Individuen, die den entfesselten Märkten und der entfesselten Gewalt unmittelbar, aber auch vermittelt durch zahlreiche Medien, ausgesetzt sind. Fährnisse, die sich in ihre Körper und Gedanken tief einschreiben.
Bauman beginnt mit der Frage, ob wir auf dem Weg zurück sind zu einem Zustand ohne staatliche Macht. Er nimmt hier Bezug auf Thomas Hobbes, der im Staat (dem Gottgleichen, dem Leviathan) das Mittel zur Wahrung und Erzwingung des Friedens sah. Ohne diesen Staat, den alle aus Vernunftgründen selbstgewählt als Souverän anerkennen, befinden wir uns – so Hobbes – in einem Kampf aller gegen alle. Diese Prämisse sieht Bauman in Frage gestellt. Der machtvolle Staat ist gebunden an ein Territorium, doch im Globalisierungsprozess hat sich die Macht von diesem abgelöst. »Die Politik […] hat ihre Zähne verloren« (S. 32) und nur noch formell bestimmt sie die Grenze zwischen legitimer und illegitimer Gewalt. Das ist nicht einfach so passiert. Vielmehr hat die Politik den Staat dem Ausverkauf preisgegeben. Mit der Öffnung der Märkte für freien Waren- und Finanzverkehr hat sich die Politik selbst in eine Situation gebracht, in der sie erpressbar geworden ist. Dem neoliberalen Narrativ von einem Zuviel an Staat, der noch dazu nicht handlungsfähig ist, hat sich die Politik seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts bereitwillig angeschlossen und die staatlichen Organisationen auf allen Ebenen zurückgefahren. Die Lebensbedingungen, die so entstanden sind, beschreibt Bauman als Minenfelder, »die voller Sprengstoff stecken« (S. 37). Man weiß, »dass es auf ihnen früher oder später zu Detonationen kommen muss; was wir hingegen nicht wissen, ist, wann und wo sich diese ereignen werden« (S. 37). Mit dem Rückzug des Staates geht die Verschiebung von Verantwortung auf den Einzelnen einher. Es gibt keine Bedingungen mehr, die für alle oder mindestens bestimmte Gruppen, verändert, verbessert werden könnten. Das Individuum allein muss in den herrschenden Bedingungen für seine Sicherheit und sein Wohlergehen sorgen.
Ready for Konkurrenzkampf?
Damit aber befinden wir uns in der permanenten Konkurrenz zu allen anderen Individuen. Eine »Philosophie des Managements« (S. 52) bestimmt das Leben der Menschen bis tief in ihren privaten Alltag hinein. »Vielfalt ist das erklärte und angestrebte Ziel, während Homogenität und repetitive Routinen zensiert und gemieden werden, weil sie als kontraproduktiv und unprofitabel gelten« (S. 71). Und so ist es nur folgerichtig, dass der einzelne – diese Philosophie verinnerlichend – in eine permanente, den gesamten Körper umfassende Selbstoptimierung verfällt, um sich zu rüsten für den Konkurrenzkampf.
Bauman analysiert, dass es nicht verwunderlich ist, dass es geradezu erleichternd sein muss, »in die vertraute, gemütliche und heimatliche, manchmal schwankende, aber tröstlich unangefochtene und erträgliche Welt von Gestern zurückzukehren« (S. 79). Zurück ans »Stammesfeuer«, wo Staat und Nation wieder verschmolzen sind und das innere Vertraute gegen das Fremde, Äußere definiert, abgegrenzt und verteidigt wird. Ebenso stellt Bauman auch ein Zurück zur sozialen Ungleichheit fest. Während man nach dem Zweiten Weltkrieg der Auffassung war, das »Ende der zügellosen Ungleichheit […] sei beschlossene Sache« (S. 110), haben wir es spätestens seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit einer
einseitigen Aufkündigung der Idee der wechselseitigen Abhängigkeit von Kapital und Arbeit durch die Kapitaleigner [zu tun], die von der Globalisierung ermöglicht und vom Staat unterstützt und begünstigt wurde, der die Beschränkungen kapitalistischer Gier und die Verteidigungsanlagen ihrer Opfer Stück für Stück abgebaut hat (S. 113).
Seines eigenen Unglücks Schmied
Bauman beschreibt trefflich, was diese Entwicklung in den Individuen bewirkt. Denen, die sich nicht auf der Seite des Kapitals befinden, schreibt sie ein Gefühl des Mangels ein, das nicht mehr an einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit gebunden ist, «sondern nach Belieben in irgendeinem der zahllosen Häfen entlang unseres Lebenswegs Anker wirft» (S. 124): das schwer fassbare aber permanente Gefühl, neben der Vereinzelung und permanenten Konkurrenz sich auch noch selbst in höchst prekärer Lage zu befinden.
Wie schon eingangs angedeutet, sind Baumans Beschreibungen und Erklärungen zwar detailliert und zutreffend, zeigen aber keinen Weg aus der Misere. Einzig mit dem bedingungslosen Grundeinkommen plädiert er für eine konkrete «Utopie für Realisten» (S. 145) und sieht darin eine «machtvolle Waffe im Kampf gegen diesen grauenhaften und potentiell katastrophal gefährlichen Trend» (S. 145) zur Ungleichheit. Das mutet fast ein wenig naiv an, angesichts der von ihm selbst als so stark und mächtig beschriebenen globalen Entwicklung, in der international agierenden Konzernen immer mehr Freiheiten eingeräumt werden, die Individuen sich aber mit der fortschreitenden Prekarisierung ihrer Lebensumstände konfrontiert sehen. So liegt denn auch die Stärke dieses Werks vor allem in der genauen Beschreibung, dem Darstellen von Zusammenhängen und vor allem in der Analyse der Wirkungen der neoliberalen Agenda auf den_die Einzelne_n. Es hat dadurch die Kraft, Augen zu öffnen und Widerstandspotenziale zu aktivieren. Die konkrete Utopie ist für unterschiedliche Menschen an unterschiedlichen Orten wohl jeweils eine andere. Daher:
Die vor uns liegende Aufgabe, die humane Integration auf der Ebene des gesamten Menschheit wird sich vermutlich als beispiellos anstrengend, beschwerlich und problematisch erweisen – hinsichtlich ihrer Konzeption wie ihrer Durchführung und Vollendung (S. 202).
Nach der Lektüre von «Retrotopia» weiß man, dass es dazu keine wirkliche Alternative gibt. «Entweder wir reichen einander die Hände – oder wir schaufeln einander Gräber» (S. 203).
Bibliografische Angaben
Zygmunt Bauman 2017: Retrotopia. Suhrkamp, Berlin. ISBN: 978-3-518-07331-5. 179 Seiten. 20,90 Euro.
Dieser Artikel erschien zuerst auf ▸kritisch-lesen.de. Wir danken für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung.
Peter Walerowski ist Erziehungswissenschaftler und IT-Spezialist. Er engagiert sich gegen die Privatisierung öffentlicher Infrastruktur.