Rezension
Rezension: Bankrotteure bitten zur Kasse. Mythen und Realitäten der Staatsverschuldung
9. Januar 2013 | Patrick Schreiner
Staatsverschuldung nicht auf die leichte Schulter nehmen, zugleich aber nicht in Panik verfallen, sondern nüchtern Verteilungsfragen in den Mittelpunkt zu stellen – das ist die Empfehlung, die uns Jürgen Leibiger gibt. Dabei scheint er gegen linke wie auch gegen rechte Mythen gleichermaßen vorgehen zu wollen, schießt aber vor allem auf der linken Seite das eine oder andere Mal über das Ziel hinaus. Dennoch ist sein Buch durchaus mit Gewinn zu lesen.
Vorweg sei auf das wohl auffälligste Merkmal des Buches verwiesen: Leibigers Argumentation in "Bankrotteure bitten zur Kasse: Mythen und Realitäten der Staatsverschuldung" ist stärker marxistisch geprägt als vergleichbare Arbeiten zum gleichen Thema, ohne aber in einen Fatalismus zu verfallen, der dem dogmatischen Marxismus leider häufig zu eigen ist. So zeigt Leibiger zwar durchaus, dass – und weshalb – Krisenhaftigkeit ein notwendiges Charakteristikum des Kapitalismus ist. Es ist aber gerade nicht Leibigers Anliegen, nur die grundsätzliche Unmöglichkeit kapitalistischen Wirtschaftens zu belegen. Seine Lösungsvorschläge bestehen daher auch nicht in der simplen Empfehlung, das Proletariat möge besser heute als morgen mit der Weltrevolution beginnen. Sehr viel realistischer fragt er sich vielmehr, wie – ausgehend von einer durchaus auch keynesianisch inspirierten Analyse des Zusammenhangs von Wirtschaft und Staatsverschuldung – auch unter den Bedingungen des Kapitalismus für möglichst viele Menschen ein Leben in Würde und Wohlstand möglich ist.
Dabei geht er von der Überzeugung aus, dass Staatsverschuldung durchaus ein Übel ist, das seine Ursache gerade in der neoliberalen Zurichtung von Gesellschaften der letzten Jahrzehnte hat. Leibigers Argumentation ist hierbei zunächst durchaus schlüssig: Nicht wildes Geld-aus-dem-Fenster-Werfen, wie Rechte es gerne unterstellen, sondern eine wachstumsfeindliche Steuer- und Ausgabenpolitik zu Gunsten der Reichen, immer schärfere Krisen durch die Deregulierung von Märkten sowie zunehmende soziale Ungleichheit führen zu steigenden Staatsausgaben beziehungsweise schrumpfenden Einnahmen. Staatsverschuldung ist für Leibiger unmittelbare Folge der neoliberalen Zurichtung von Gesellschaften und Volkswirtschaften.
Gerade am Beispiel der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise macht er dies deutlich. Er beschreibt die Finanzblase, deren Platzen 2007 die Krise ausgelöst hat, als Überakkumulation fiktiven Kapitals in Folge neoliberaler Politik: Während einerseits die Kapitalien der Reichen immer mehr gewachsen seien, also immer mehr Vermögen profitabel angelegt werden wollten, sei durch schrumpfende Reallöhne und sinkende Sozialleistungen die volkswirtschaftliche Nachfrage als Voraussetzung für profitable Investitionen weggebrochen. Die Folge war eine Spirale reiner Finanzinvestitionen, die – losgelöst von jeglicher Verankerung in der Realwirtschaft – irgendwann an ihr Ende kommen musste.
Dass Staatsverschuldung ein Übel sei, begründet Leibiger im Kern mit ihrer Umverteilungswirkung. Während Reiche dem Staat Geld liehen und dafür Zinsen erhielten, würden diese Zinsen von allen bezahlt – auch von Menschen mit niedrigen Einkommen oder von TransferleistungsempfängerInnen. Geld fließe also aus leeren in ohnehin schon volle Taschen. Diese Argumentation ist zwar nicht völlig von der Hand zu weisen, aber auch nicht ohne Widersprüche – sie trägt nämlich nur in Gesellschaften mit großer Ungleichverteilung. Wäre der Wohlstand gleichmäßiger über alle Mitglieder einer Gesellschaft verteilt, wie es Leibiger auch selbst anzustreben scheint, so würden auch alle Menschen von staatlichen Zinsen profitieren.
Auf die Fragen, wie die aktuelle Krise zu bewältigen und insbesondere wie die Staatsverschuldung zu reduzieren wäre, geht Leibiger über das gesamte Buch hinweg immer wieder ein. Dabei weist er zu Recht und gut begründet darauf hin, dass das Kürzen öffentlicher Ausgaben nicht zielführend ist. Eine solche Austeritätspolitik verschärfe vielmehr die Krise und führe letztlich zu noch mehr Staatsverschuldung. Andererseits hält er aber auch das keynesianische Deficit Spending nicht für erfolgversprechend, wenngleich er es als begleitende Maßnahme durchaus nicht ablehnt. Der staatliche Versuch alleine allerdings, durch Mehrausgaben die Konjunktur in Gang zu bringen, könne Krisen lediglich mildern, nicht aber verhindern.
In der politischen Realität dürften beide Positionen nicht ganz widerspruchsfrei miteinander zu vereinbaren sein. Etwas ratlos mag sich der Leser oder die Leserin an dieser Stelle daher fragen: Was denn dann? Leibiger skizziert drei wesentliche Strategien, um Staatsverschuldung abzubauen (ich übergehe einige weitere, die ich für weniger relevant halte): Erstens einen "Schuldenschnitt", sprich das Streichen der Schulden – was faktisch dem teilweisen oder vollständigen Enteignen der GläubigerInnen gleichkommt. Zweitens eine deutliche Stärkung der Staatseinnahmen durch höhere Steuern auf große Einkommen, Vermögen und Unternehmensgewinne. Und drittens eine drastische Umverteilung von Einkommen und Vermögen von oben nach unten.
Nun gibt es gute Gründe, zumindest der ersten dieser drei Maßnahmen mit Skepsis entgegenzutreten. Allerdings hat Leibiger seine LeserInnen ja mit seinem Argument präpariert, Staatsverschuldung nütze letztlich nur den Reichen, weil sie deren Taschen fülle. Die Schlussfolgerung, Schulden könnten und sollten schlicht gestrichen werden, drängt sich daher aus seiner Gerechtigkeitsperspektive geradezu auf. Doch genau hier steckt der Teufel im Detail. So haben keineswegs nur Reiche, sondern in gewissem Umfang auch Menschen mit durchschnittlichem oder gar geringem Einkommen ihr Geld in Staatsanleihen angelegt. Und das völlig zu Recht, denn Staatsanleihen haben den Ruf, die sichersten Wertpapiere überhaupt zu sein – es gibt volkswirtschaftlich gute Gründe, diesen Ruf nicht zu gefährden. Welche Folgen ein "Schuldenschnitt" vor diesem Hintergrund haben kann, lässt sich am Beispiel Griechenlands beobachten: Die Tatsache, dass inzwischen auch Spanien und Italien in eine veritable Krise gerutscht sind, dürfte auch auf den griechischen "Schuldenschnitt" zurückzuführen sein.
Überhaupt stellt sich die Frage, weshalb für den Abbau der Staatsschulden nur diejenigen herangezogen werden sollen, die ihr Geld direkt oder indirekt in Staatsanleihen angelegt haben – nicht aber die, die beispielsweise in Aktien, Immobilien oder Schiffe investiert haben. Genau das wäre aber der Effekt eines "Schuldenschnitts", belastet würde nur eine von vielen Anlageklassen. Da hilft auch Leibigers Hinweis nur bedingt weiter, dass bestimmte Anlegergruppen von einem "Schuldenschnitt" ausgenommen werden können.
Gerechter und auch verteilungspolitisch sehr viel zielgenauer wäre deshalb Leibigers zweiter wichtiger Vorschlag, generell hohe Einkommen, Vermögen und Unternehmensgewinne höher zu besteuern. Derzeit wird in Deutschland zudem eine einmalige, sehr hohe Vermögensabgabe diskutiert – auch das wäre eine sinnvolle Maßnahme, um finanzielle Mittel für sinnvolle politische Programme und für einen Abbau der Staatsverschuldung zu mobilisieren. Solche steuerpolitische Maßnahmen könnten Bestandteil einer Strategie der Umverteilung des Wohlstands von oben nach unten sein, die um eine expansivere Lohnpolitik und höhere Transferleistungen ergänzt werden müsste. Auch diesem dritten wichtigen und gut begründeten Vorschlag Leibigers, nämlich einer radikalen Umverteilung, ist schließlich uneingeschränkt zuzustimmen.
Leibiger hat ein gut lesbares Buch zum Thema Staatsverschuldung geschrieben, das diese komplexe Thematik dank zahlreicher Erläuterungen und Rechenbeispiele auch für interessierte Laien zugänglich macht. Er räumt mit zahlreichen Mythen des politischen Mainstreams auf – so macht er beispielsweise deutlich, welche negativen Folgen Kürzungspolitik und Schuldenbremse haben. Leider schießt er dabei auch vereinzelt gegen politisch ihm eigentlich nahestehende Positionen, und er agiert dabei nicht immer fair. So unterstellt er bisweilen, dass – wer auf keynesianisches Deficit Spending und die wichtige volkswirtschaftliche Rolle staatlicher Verschuldung beharrt – verteilungspolitische Aspekte nicht beachte. Genau dies trifft aber in den meisten Fällen gerade nicht zu.
Gleichwohl ist Leibigers Ansatz, Ungleichverteilung in den Mittelpunkt zu stellen, der richtige. Wenngleich seine Antworten nicht in jedem Einzelfall überzeugen können, so stellt er doch im Kern die richtige Frage: Nämlich die nach den Konsequenzen politischer Entwicklungen für die Mehrheit der Bevölkerung, die Frage nach der Verteilung des Wohlstands.
Bibliografische Angaben:
Jürgen Leibiger: Bankrotteure bitten zur Kasse. Mythen und Realitäten der Staatsverschuldung. Köln: PapyRossa 2011. ISBN 9-783894-384661. 274 Seiten, 16,90 Euro.
Der Text erschien zuerst in kritisch-lesen.de Ausgabe 21/2012.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.