Rezension
Rezension: Der neue Klassenkampf
13. Juli 2017 | Sebastian Friedrich
Es gibt genügend Gründe, um Slavoj Žižek zu kritisieren. Auch seine 2015 bei Ullstein veröffentlichte Streitschrift „Der neue Klassenkampf. Die wahren Gründe für Flucht und Terror“ möchte man schnell wieder zuklappen und in den Giftschrank stellen. Žižek geriert sich als Sarrazinesker Tabubrecher, wenn er gegen Linksliberale oder die Kritik an Eurozentrismus und Islamophobie polemisiert oder wenn er für eine emanzipatorische Leitkultur streitet. Mit Bezug auf Flüchtlinge sinniert er darüber, Menschen hätten eigentlich immer ein schwieriges Verhältnis mit ihren Nachbarn. Žižek provoziert − doch ein Blick auf seine Grundannahmen zeigt: Linke sollten seine Gedanken nicht leichtfertig beiseiteschieben.
Probleme mit den Nachbarn
Wie kommt Žižek auf den merkwürdigen Nachbar-Vergleich? Er argumentiert mit Freud: Ein Nachbar sei „ein traumatischer Eindringling, jemand, dessen andersartige Lebensweise [...] uns stört, unsere gewohnte Lebensweise durcheinanderbringt“ (S. 67). Allzu große Nähe mit einem Nachbarn könnte zu aggressiven Reaktionen führen. Soll man daher lieber auf Nachbarn verzichten? Man könnte Žižek so verstehen. Es geht ihm aber um etwas anderes: Es fällt an dieser Stelle nicht leicht, der assoziativen Argumentation zu folgen, doch die Mühe lohnt sich. Žižek führt sein Nachbar-Argument mit Hilfe zweier Szenen aus.
Die erste: Ein israelischer Soldat durchsucht ein Haus in den besetzten Gebieten, das niedergewalzt werden soll. Er tritt auf eine Mutter mit ihrer Tochter, die Mutter ruft das verschreckte Mädchen bei ihrem Namen. Sie hat den gleichen Namen wie die Tochter des Soldaten. Der Soldat menschelt, zückt ein Foto seines Kindes und zeigt es der palästinensischen Mutter. Ihr nützt der kurze Moment der Rührseligkeit leider nichts: Der Bulldozer walzt kurz darauf das Haus nieder. Hat die Empathie des Soldaten etwas gebracht? Nein, im Gegenteil: „Die Vorstellung, dass wir trotz aller politischen Differenzen doch Menschen mit denselben Vorlieben und Sorgen sind, neutralisiert die Wirkung dessen, was der Soldat eigentlich im Begriffe ist zu tun.“ (S. 70)
Žižek verzichtet auf Rückbezüge und kommt direkt zur zweiten Szene. Sie stammt aus dem Film „Sullivans Reisen“ (USA 1941). Darin will der berühmte Hollywood-Regisseur John L. Sullivan das Leben eines Habenichts am eigenen Leib erfahren. Sullivan sinniert über sein Vorhaben mit seinem Butler Burrough, der nüchtern bemerkt: „Wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, Sir, das ist kein interessantes Thema. Die Armen wissen alles über die Armut, und nur die morbiden Reichen würden sich von diesem Thema faszinieren lassen.“ (S. 73) Egal, was er tut, Sullivan sitzt nicht im selben Boot wie die Armen. Seine Güte bleibt hilflos.
Unweigerlich denkt man hier an die vielen Willkommensinitiativen, die es gerade gibt. Klar, sie sind notwendig, einige Geflüchtete kritisieren aber auch den Paternalismus in den Solidaritätsnetzwerken. Ob gütiges Wesen oder interessantes Studienobjekt: Die Figur des Flüchtlings eignet sich als Projektionsfläche. Žižeks Appell:
„Wir sollten helfen, weil es unsere Pflicht ist, es zu tun, aber ohne jegliche Sentimentalitäten, die in dem Moment in sich zusammenfallen, da wir erkennen, dass die meisten der Flüchtlinge eben nicht 'so sind wie wir' − nicht, weil sie Fremde sind, sondern weil wir selbst nicht 'so sind wie wir'. [...] Die schlichte Tatsache, dass eine solche Ausstellung von Großzügigkeit uns ein gutes Gefühl gibt, sollte uns misstrauisch machen.“ (S. 76)
Žižek hat in diesem Punkt Recht. Mitmenschlichkeit und Mitgefühl sind deshalb keine geeignete Basis, weil sie jederzeit wieder entzogen werden können. Es kann manchmal sehr schnell gehen. Im Sommer feierten sich weite Teile der deutschen Gesellschaft als Willkommensweltmeister, als Probleme auftauchten oder aufgebauscht wurden, entzogen viele aus dem Weltmeisterteam ihre Solidarität.
Hin zu einer Kritik der politischen Ökonomie
Die Lieblingsfeinde Žižeks sind diejenigen Kulturlinken, die ökonomische Fragen zugunsten gesellschaftspolitischer aufgegeben haben. Žižek fordert eine radikale Abkehr vom Kampf der Kulturen. Dieser hat zwei Seiten: Nicht nur Rassisten, sondern auch Linksliberale, „deren Politik sich auf den Kampf gegen Sexismus, Rassismus und Fundamentalismus und für multikulturelle Toleranz konzentriert“ (S. 52). Žižek appelliert für einen Perspektivwechsel „hin zu einer konkreten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Analyse“ (S. 37). Es gehe letztlich auch in der aktuellen Situation um Klassenverhältnisse. Diese überdeterminieren alles, sind strukturierendes Prinzip. Er versucht sich an einer Analyse der politischen Ökonomie der Flüchtlingsthematik. Da macht er richtige Punkte, die so gar nicht nach Eurozentrismus klingen: Schuld an der globalen Nahrungsmittelkrise sei der Westen, konkreter die USA, die EU, die Weltbank, der IWF und entsprechende Strukturanpassungsprogramme, Lebensmittelexporte sowie postkoloniale Abhängigkeiten, die sich daraus ergeben.
Linksliberale bringt Žižek vor allem gegen sich auf, wenn er sich für die Beibehaltung von Grenzen ausspricht. Žižeks Skepsis gegenüber Bewegungsfreiheit muss man nicht teilen, aber sein Argument ist bedenkenswert: Es kann keine Bewegungsfreiheit ohne die Abschaffung des Kapitalismus geben. „Die Verwirklichung dieser Freiheit setzt nichts weniger voraus als eine radikale sozioökonomische Revolution.“ (S. 48) Er führt sein Argument nicht zu Ende, doch es fällt nicht schwer, es weiterzudenken. Im Rahmen einer globalisierten, kapitalistischen Welt ist der Ruf nach Bewegungsfreiheit einer, mit der sich die Kapitalseite durchaus arrangieren kann. Junge, arbeitsfähige Menschen können nicht nur hervorragend an Bahnhöfen beklatscht, sondern auch außerordentlich gut ausgebeutet werden. Die Forderungen deutscher Wirtschaftsverbände nach einer Aussetzung des Mindestlohns für Flüchtlinge sprechen dahingehend Bände. Das Kapital hat es schon immer verstanden, sich Migration zunutze zu machen, wie etwa die Gastarbeiterära zeigte. Man sollte daraus nicht die Schlussfolgerung ziehen, Obergrenzen zu fordern, doch die Interessen der Kapitalseite zu ignorieren, wäre fatal. Vielmehr sollten diese zum Ausgangspunkt gemacht werden.
Žižek hat das im Sinn, wenn er fordert, „dass wir Brücken zwischen 'unserer' und 'deren' Arbeiterklasse bauen − dass wir sie, die Flüchtlinge, an einem solidarischen Kampf beteiligen“ (S. 57). Žižek am Schluss: „Wir müssen den Klassenkampf wieder auf die Tagesordnung bringen. Und das ist allein dadurch zu bewerkstelligen, dass man auf der globalen Solidarität der Ausgebeuteten und Unterdrückten besteht.“ (S. 89) Wer mag ihm da widersprechen?
Das Gewohnte hinterfragen
Žižek provoziert immer wieder, seine radikale Kritik kippt manches Mal ins Zynische, etwa wenn er schreibt, dass es eigentlich darum gehen müsse, „die Basis der Gesellschaft weltweit so umzugestalten, dass keine verzweifelten Flüchtlinge mehr auf diesen Weg gezwungen werden“ (S. 12). Ja klar, es geht ums Ganze, doch sollte man einfach die Füße hochlegen, pocht die Revolution ja gerade nicht an unsere Tür? Auch die Eliminierung der zentralen Fluchtursachen (Imperialismus, Umweltzerstörung, Kapitalismus) wird noch ein bisschen dauern. Was machen wir bis dahin? Bizarr wird es, wenn Žižek sich positiv auf das Militär bezieht oder in AfD/CSU-Manier von europäischen Staaten geführte Aufnahmezentren für Flüchtlinge in Krisenregionen anregt.
Man sollte deshalb nicht mit allem mitgehen, was Žižek schreibt, in vielem muss man ihm entschieden widersprechen. Aber: Er legt den Finger in die Wunde. Er bricht mit Gewissheiten, fordert Linke heraus. Es ist eine Methode Žižeks: überspitzen, über das Ziel hinausschießen, eine Gegenposition erzwingen, um das Gewohnte in Frage zu stellen.
Daher ist Žižeks Kernanliegen im Grundsatz zu unterstützen. In der aktuellen Polarisierung zeigt sich in schauriger Weise, in welch schlechtem Zustand die Linke in Deutschland, wohl in ganz Europa ist. Es gibt gerade nur die Merkel-Position und eine rechte (vermeintliche) Alternative. Das Schlimmste dabei: Es muss eine linke Position nicht einmal unterdrückt oder verschwiegen werden.
Bibliografische Angaben
Slavoj Žižek 2015: Der neue Klassenkampf. Die wahren Gründe für Flucht und Terror. Ullstein Buchverlage, Berlin. ISBN: 13 9783550081446. 96 Seiten. 8,00 Euro.
Der Artikel erschien in einer überarbeiteten Fassung zuerst in kritisch-lesen.de Ausgabe 39/2016.
Sebastian Friedrich ist Journalist und Publizist aus Hamburg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Sozialstaatsdiskurse, Neue Rechte, AfD, Kritische Soziale Arbeit, Diskursanalyse sowie Klassenanalyse. Als @formelfriedrich twittert er regelmäßig. Seine Homepage: sebastian-friedrich.net.