Rezension
Rezension: Die neue Umverteilung
29. Juli 2014 | Lea Karrasch
Das bereits in 4. Auflage erschienene Buch "Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland" des kürzlich verstorbenen Sozialhistorikers Hans-Ulrich Wehler beginnt mit der Beschreibung der aktuellen sozialen Schieflage in Deutschland: Millionen Arbeitslose, denen gegenüber die exorbitant gestiegenen Managergehälter stehen. Öffentliche Aufmerksamkeit erlangte "Die neue Umverteilung" insbesondere durch die Rede des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel, der Wehler in seiner Rede zum 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung im Bundestag Anfang 2013 zitierte. Doch die große Leistung des Buches ist nicht eine Einordnung der aktuellen sozialen Schieflage in Deutschland, sondern deren Herleitung über historische Entwicklungen und theoretische Debatten hin zu dem Appell an die Politik das „Soziale“ der Marktwirtschaft wieder ernst zu nehmen.
So sind es nach einem Abriss der internationalen Debatte über Einkommensungleichheit insbesondere die deutschen Einkommens- und Vermögensungleichheiten, die Wehler in den Fokus seiner Abhandlung stellt. Kann der Armuts- und Reichtumsbericht nur eine Momentaufnahme ohne direkte Konsequenzen sein, so fordert Wehler, die Verantwortung nicht dem Einzelnen aufzudrücken, sondern soziale Ungleichheiten aktiv durch langfristiges, staatliches Handeln einzugrenzen.
Der (im Verhältnis zum gesamten Buch) recht lange Theorieteil erleichtert der Leserin/dem Leser die anschließende Einordnung aktueller Entwicklungen. Die sozialen Strukturen Deutschlands werden historisch hergeleitet und mit theoretischen Diskursen (angefangen mit der schottischen Aufklärung, über den Vormärz und Karl Marx bis hin zu Max Weber und Pierre Bourdieu) unterfüttert, sodass eine Einordnung von Wehlers Argumentation auch Laien möglich wird.
Aufbauend auf der theoretischen Hinleitung erläutert der Autor anschließend an konkreteren Politikfeldern mithilfe von empirischen Daten, wie sich soziale Ungleichheiten zum Beispiel bei „Wirtschaftseliten“, aber auch in Kategorien wie Geschlecht und Alter bemerkbar machen und manifestieren. Das Spannungsfeld von Individualismus versus Solidarität in der Gesellschaft zieht sich wie ein roter Faden durch die Kapitel und bildet den Angelpunkt des Buches. Dass z.B. Organisationen wie Gewerkschaften und Vereine tendenziell Mitglieder verloren haben, sich aber insbesondere für die gehobene Mittelklasse neue Beteiligungsformen herausgebildet haben, wie Freien Wählervereinigungen und direkte Bürgerbeteiligung, scheint bezeichnend. Aber es sind laut Wehler eben nicht die Bürgerinnen und Bürger, die einen sozialen Sozialstaat formen und mithin die soziale Ungleichheit verringern können. Tragfähige Konzepte eines sozialen Staates, um die Ungleichheit zu verringern, kann nur einer entwickeln: „der moderne Staat“. Wie diese staatliche Regulierung en détail aussehen sollte, lässt der Autor jedoch offen bzw. weist deren Ausgestaltung der Politik zu.
Bibliografische Angaben
Hans Ulrich Wehler: Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland, München 2013, 4. Auflage. 192 Seiten, 14,95 Euro, ISBN 978-3406643866.
Lea Karrasch ist beim DGB Bezirk Niedersachsen - Bremen - Sachsen-Anhalt für Bildungspolitik und den öffentlichen Dienst zuständig.