Rezension
Rezension: EU-Osterweiterung
12. Mai 2016 | Jens Zimmermann
Hannes Hofbauer zeichnet in seiner sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Rekonstruktion des EU-Erweiterungsprozesses die ökonomisch und sozial verheerenden Folgen neoliberaler Programme nach.
Die akademische Europaforschung zeichnet sich nicht gerade durch übersprudelnde Kritikfreude aus. Erst mit der Finanzkrise und den anschließenden Verwerfungen meldeten sich immer mehr ForscherInnen zu Wort, die grundsätzliche Zweifel an der ökonomischen und politischen Verfasstheit der EU äußerten. Hannes Hofbauer ist einer der wenigen, die auch schon vor dem Finanzcrash mit materialistisch geschultem Auge und in der Tradition der Weltsystemtheorie den europäischen Integrationsprozess analysierten und sich dabei vor allem auf Osteuropa konzentrierten. Mit seiner Arbeit zur EU-Osterweiterung ist ihm dabei ein großer Wurf gelungen. Um die Kritik vorwegzunehmen: Hofbauers Studie endet genau zu dem Zeitpunkt, als die Finanzkrise an Fahrt aufnimmt. Dies kann dem Autor nicht vorgeworfen werden, ist aber trotzdem bedauerlich, da gerade in den osteuropäischen Beitrittsländern die Auswirkungen der globalen Krise besonders heftig zu spüren waren. Eine Fortschreibung wäre also eine auf jeden Fall dankenswerte Arbeit.
Bei aufmerksamer Lektüre wird schon im ersten Kapitel zu den historischen Wurzeln der verschiedenen Europabilder klar, dass hier keine bloße Nachzeichnung der einzelnen Beitrittsetappen geleistet wird, sondern eine theoretisch fundierte Perspektive formuliert werden soll. Hofbauer gehört mit seinen historischen Studien zu der kleinen Gruppe deutschsprachiger GeschichtswissenschaftlerInnen, die sich der Tradition der Weltsystemtheorie à la Immanuel Wallerstein und den dazugehörigen Konzepten von (kapitalistischer) Peripherie und Zentrum sowie ungleicher Entwicklung verpflichtet fühlen. In diesem Modell wird die kapitalistische Entwicklung einzelner Staaten und Regionen immer relational begriffen. Der ökonomische und politische Aufstieg einzelner Staaten (Zentrum) funktioniert nur durch die herrschaftliche Einbindung anderer Staaten (Peripherie). Kennzeichnend für diese Perspektive ist die Darstellung historischer Phänomene über einen langen Zeitraum und vor allem im geographisch großen Maßstab. In Bezug auf den Prozess der EU-Osterweiterung rekonstruiert Hofbauer daher die Begriffsgeschichte Europas seit der Antike und flankiert sie mit der historisch-räumlichen Entwicklung des Gebietes der EU seit den Kreuzzügen im 12. Jahrhundert. Durch die Darstellung der ideologischen und geopolitischen Entwicklungsgeschichte kann Hofbauer plausibel aufzeigen, dass seit jeher „der Osten“ expansive Begehrlichkeiten weckte, wie einzelne Kolonisationsprojekte und militärische Auseinandersetzungen zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert deutlich machen.
Deutsche Europavisionen
Im Deutschen Reich werden die expansiven Bestrebungen noch vor dem Ersten Weltkrieg auch ideologisch ausgekleidet. Die liberal-mitteleuropäische und deutsch-nationale Variante waren sich dabei in der Notwendigkeit einer unumschränkten Führungsrolle Deutschlands einig und begründeten dies mehr oder weniger aus ökonomischen Interessen. Interessant ist nun, dass Hofbauer mit mehreren Beispielen empirisch belegen kann, dass auch in den Kreisen nationalsozialistischer Unternehmer ähnliche Europavisionen kursierten. Zum Beispiel verweist er auf Werner Daitz, einen führenden Unternehmer in der NSDAP und ab 1931 Mitglied der Reichsleitung:
„Wenn wir den europäischen Kontinent wirtschaftlich führen wollen, wie dies aus Gründen der wirtschaftlichen Stärke des europäischen Kontinents als Kernraum der weissen (sic) Rasse unbedingt erforderlich ist und eintreten wird, so dürfen wir aus verständlichen Gründen diese nicht als eine Großraumwirtschaft öffentlich deklarieren. Wir müssen grundsätzlich immer von Europa sprechen, denn die deutsche Führung ergibt sich ganz von selbst und aus dem politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und technischen Schwergewicht Deutschlands und seiner geografischen Lage.“ (S. 28)
Zum einen lässt sich hier argumentieren, dass eine deutsche Europa-Großmachtpolitik zwar von den Nationalsozialisten umgesetzt wurde, aber schon zu Beginn des Jahrhunderts in bürgerlich-liberalen und deutsch-nationalen Kreisen vorgedacht wurde. Zum anderen, so Hofbauer, lässt sich nicht plausibel zeigen, dass nach 1945 ein Bruch mit diesen Kernelementen der deutschen Europavision stattgefunden hat. Und auch das Kauder’sche Diktum, in Europa würde wieder Deutsch gesprochen, legt nahe, dass innerhalb der politischen Klasse der BRD nach wie vor in großen Maßstäben gedacht wird.
Der Zusammenbruch des „Ostblocks“
Das zweite und dritte Kapitel wenden dann den Blick auf den Zerfall des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) – eine Wirtschaftsgemeinschaft der realsozialistischen Staaten – und die daraus resultierende ökonomische Peripherisierung der osteuropäischen Staaten. Der Kollaps des realsozialistischen Wirtschaftsraumes lässt sich, so Hofbauer, auf ein ganzes Bündel aus inneren und äußeren Faktoren zurückführen. Zum einen konnten die Staaten des RGW nicht wie ihre Systemkonkurrenten auf imperiale Projekte zurückgreifen, die ihnen den einfachen Zugang zu Ressourcen sicherten. Zum anderen erreichte auch die Planbarkeit der Wirtschaftsaktivitäten innerhalb des RGW schnell ihre Grenze, und einzelne Staaten, wie zum Beispiel Rumänien, rissen sich aus der Gemeinschaft los. Spätestens seit Mitte der 1970er Jahre waren die Staaten des RGW durch ihre Verschuldung bei westlichen Staaten in das kapitalistische Weltsystem integriert und so auch für dessen Krisen anfällig, was spätestens an dem Punkt deutlich wurde, an dem die Kredite fällig waren und kaum zurückbezahlt werden konnten. In den 1980er Jahren wurde die Marktintegration dann vollendet, indem die Sowjetunion ihre Erdölpreise am Weltmarkt-Durchschnitt orientierte.
Der gesamtgesellschaftliche Preis, den die osteuropäischen Staaten zu zahlen hatten, war dramatisch. Innerhalb von fünf Jahren setze eine umfassende Deindustrialisierung ein, die in einer an den EU-Markt orientierten Exportwirtschaft mündete – ein klassisches Merkmal für peripheren Kapitalismus. Hofbauer zeigt hier detailreich, wie in Osteuropa ein Arbeitsmarkt hergestellt wurde, auf dem nur 1/30 der Durchschnittslöhne im Vergleich zu Deutschland gezahlt wurden – ein idealer Standort also für die Auslagerung lohnintensiver Produktionen. Begleitet wurde dieser Prozess mit einer einschneidenden sozialen Umverteilung:
„Osteuropas Reformjahrzehnt, das auch in der westeuropäischen Politik seine Spuren hinterlassen hat, entpuppt sich unter dem Bilanzstrich von Soll und Haben als große Umverteilungsmaschine. Lohnabhängige und RentnerInnen wurden enteignet, große ausländische Konzerne gingen als Gewinner der Transformation hervor. Die Schrumpfung von Sparguthaben via Hyperinflation sowie die Streichung von Arbeitsplätzen mittels Privatisierung und Schließung von Betrieben zählt zu den effektivsten Formen des sozialen Raubs.“ (S. 58)
Und auch die ehemals staatlichen Schlüsselindustrien weckten das Interesse westlicher Investoren, die nach erfolgter Privatisierung bei der Belegschaft den Rotstift ansetzten. Wer bis zu diesem Zeitpunkt Hofbauers Darstellung folgt, kann das Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch des RGW als Herstellung Osteuropas als kapitalistische Peripherie und Vorbereitung für den politisch-ökonomischen Anschluss an die kerneuropäischen Staaten deuten.
Bulgarien als Musterbeispiel
Die insgesamt zehn Länderstudien (Ungarn, Polen, Slowenien, Tschechien, Slowakei, Bulgarien, Baltikum und Kroatien) bilden den Kern der Studie. In einer detektivischen Kleinarbeit rekonstruiert Hofbauer die verschiedenen „Entwicklungswege“ bis zum Eintritt in die EU. Aus diesen Länderstudien lohnt es sich, Bulgarien genauer anzuschauen, um die Logik der Peripherisierung klar darzustellen. Nach der Ablösung der sozialistischen Partei 1997 setzte die neue Regierung ihr wirtschaftliches Programm um, das im Wesentlichen aus einer konsequenten Privatisierung des Staatseigentums und Neoliberalisierung der (Arbeits-)Marktstrukturen bestand. Innerhalb kürzester Zeit wurde die bulgarische Währung um fast 1.000 Prozent entwertet. Diese Hyperinflation machte quasi über Nacht alle Sparguthaben wertlos. In der Folge nahmen der IWF, die Weltbank und die deutsche Bundesbank die geldpolitischen Geschicke Bulgariens in die Hand und erlegten dem Land eine Sparpolitik auf, die bis heute tiefe Einschnitte im sozialen Gefüge des Landes hinterlassen hat. Hier ist besonders bekümmerlich, dass Hofbauers Analyse abbricht, denn in der Finanzkrise zeigte sich das ganze Ausmaß der ökonomischen Destruktion. Verschiedene EU-Surveys dokumentieren, dass jede/r Zweite in Bulgarien unter materieller Not leidet, jede/r Dritte ist aufgrund von Miete, Krediten und Hypotheken verschuldet. Dazu kommt, dass der bulgarische Staat nur 35,9 Prozent seines BIPs für sozial- und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen ausgibt und damit im Europavergleich auf dem letzten Rang platziert ist. Kein Wunder, dass Menschen für einen der niedrigsten Durchschnittslöhne (384 Euro) in der EU bereit sind zu arbeiten. Gleichzeitig wurden billige Arbeitskräfte für den kerneuropäischen Arbeitsmarkt freigesetzt, die hierzulande unter unfassbaren Bedingungen in der Baubranche oder Fleischindustrie arbeiten.
Im letzten Kapitel „Osteuropas Zurichtung zur Peripherie“ resümiert Hofbauer noch einmal die ökonomischen Folgen des Erweiterungsprozesses für die osteuropäischen Staaten und zeichnet ein dichtes Bild ökonomischer und sozialer Verwerfungen. Diese knapp 27 Seiten wären schon allein die Veröffentlichung wert, denn eine genauere Analyse kerneuropäischer Hegemonialpolitik wird man nur schwer woanders finden. Mit viel Empirie zeichnet Hofbauer die Deregulierung der Arbeitsmärkte, Privatisierung von Schlüsselindustrien und Übernahme des heimischen Finanzsektors sowie die Auslagerung von arbeitsintensiven Industrien in die osteuropäischen Billiglohnländer nach. Letztlich eine mehr als bedrückende Zusammenschau. Trotz des schon etwas zurückliegenden Veröffentlichungsdatums ist Hofbauers Studie allen zu empfehlen, die an einer sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Analyse der kapitalistischen Entwicklung in der EU interessiert sind und ökonomische Kennziffern nicht scheuen. Vor allem in der Debatte um ein sozialeres Europa von unten sind solche Studien notwendig, um die machtpolitische Konstellation in den osteuropäischen Staaten zu verstehen.
Bibliografische Angaben
Hannes Hofbauer 2007: EU-Osterweiterung. Historische Basis - ökonomische Triebkräfte - soziale Folgen. Promedia Verlag, Wien. ISBN: 978-3-85371-273-3.
320 Seiten. 19,90 Euro.
Der Artikel erschien in einer überarbeiteten Fassung zuerst in kritisch-lesen.de Ausgabe 39/2016.
Jens Zimmermann ist Mitarbeiter des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS) und beschäftigt sich u.a. mit der Verschränkung von Rassismus und Klassenherrschaft.