Rezension
Rezension: How Markets fail. The Logic of Economic Calamities
28. November 2012 | Patrick Schreiner
Bücher zur Krise gibt es jede Menge – geschrieben in vielen Fällen aus kritischer Perspektive. Kritisch meint in diesem Fall insbesondere, dass die Autorinnen und Autoren dieser Arbeiten an marxistischen oder keynesianischen Überlegungen ansetzen. Die meisten dieser Bücher zeichnen sich dadurch aus, dass sie die beliebten, aber ätzend langweiligen Spielchen zahlreicher Politiksekten nicht mitmachen: Ihnen geht es nicht darum, möglichst viele vermeintlich notwendige Schlagworte wie "Überkonsumtionskrise" oder "Nachfragetheorie" bei der Analyse der aktuellen Krise(n) hinauszuposaunen – als ob es für jede Nennung der zentralen Begriffe des jeweiligen Theoriegebildes wie in einer Quizshow Punkte zu sammeln gäbe. Ihnen geht es auch nicht darum, die systemische Grundsätzlichkeit der aktuellen Krise(n) zu beweisen – und damit wieder einmal das Ende des Kapitalismus zu verkünden, das am Ende dann blöderweise doch nicht eintritt.
Sich solchen Pawlowschen Ideologie-Reflexen zu verweigern, spricht für zahlreiche der aktuellen Buchveröffentlichungen zum Thema. Im deutschsprachigen Raum wäre hier etwa auf Wolfgang Münchaus „Flächenbrand“ zu verweisen, der schon sehr früh (2008) eine fundierte Analyse der Krise vorgelegt hat. Münchau ist gewiss kein Linker, aber zumindest ein kritischer Zeitgenosse. Lucas Zeises im gleichen Jahr erschienenes „Ende der Party“ ist inhaltlich ähnlich wie das Münchaus angelegt und wurde zwischenzeitlich von einem sehr viel grundsätzlicheren Buch über „Geld“ ergänzt (Zeise 2010). Münchau und Zeise sind Journalisten mit fundierten Kenntnissen ökonomischer Theorie. Etwas aus dem Rahmen fällt dem gegenüber „Das Gespenst des Kapitals“ des Literaturwissenschaftlers Joseph Vogl (2011). Dieser stärker essayistisch angelegte Text erhebt keinen Anspruch auf wirtschaftswissenschaftliche Analyse oder journalistische Gesamtargumentation, sondern versteht sich eher als ideologiekritische Darstellung des neoliberalen Kapitalismus unter Bezugnahme auf den weiteren Hintergrund bürgerlich-kapitalistischer Ideologiegeschichte.
Im englischsprachigen Raum sind (mindestens) zwei Bücher erschienen, die jenen Münchaus und Zeises in vielem ähnlich sind: Ihre Autoren sind Journalisten mit fundierten Kenntnissen ökonomischer Theorie, und ihr Erkenntnisinteresse ist dem Scheitern des Neoliberalismus gewidmet – nicht dem Versuch, ein Scheitern des Kapitalismus als solchem abzuleiten. Zugleich sind sie mehr oder weniger von kritischem Ansätzen der Ökonomietheorie geprägt, ohne dass diese Theoriebestandteile in jeder Zeile herausgeschwitzt werden. Es ist dies zum einen John Authers (2010), der detailgenaue Analysen moderner „Finanzinstrumente“ und ihrer Auswirkungen auf Finanzmärkte wie auch Realwirtschaft liefert. Und schließlich John Cassidys „How Markets Fail: The Logic of Economic Calamities“ (2010), auf das im Folgenden genauer eingegangen werden soll.
Abrechnung und fundierte Analyse
Streckenweise erscheint Cassidys Buch wie eine persönliche Abrechnung mit Alan Greenspan, dem früheren langjährigen Präsident der US-Notenbank „Fed“. Dessen peinliches Auftreten vor dem Untersuchungsausschuss des US-Kongresses zur Finanzkrise wälzt Cassidy – durchaus unterhaltsam – ebenso aus wie die marktradikale Ideologiegenese des Ex-Notenbankers. Angesichts des quasi-messianischen Nimbus, der Greenspan jahrelang zugeschrieben wurde, ist dieser Denkmalsturz mehr als verständlich und berechtigt. Und doch beschränkt sich Cassidys Abrechnung keineswegs auf Greenspan, der hier letztlich die Rolle eines naiv-dümmlichen Umsetzers jahrzehntelangen liberalen und marktradikalen Theoriequarks einnimmt. Cassidy bietet vielmehr eine fundierte und sehr breite Analyse eben gerade dieses Theoriequarks – wie auch kritischer Gegenpositionen.
Dreh- und Angelpunkt seiner Darstellungen ist dabei das Verständnis, das verschiedene Denkschulen von Märkten haben. Als „Utopian Economics“ beschreibt er eine Traditionslinie von Adam Smith über Friedrich August von Hayek und Milton Friedman bis zu modernen mathematischen Theorien des Finanzmarkts. Den naiven Glauben etwa an sich automatisch einstellende Gleichgewichtszustände, an adäquate Verteilung von Risiken und die effiziente Allokation von Kapital beschreibt er in gebotener Kürze bei gleichzeitig angemessener Intensität. Der liberale Marktradikalismus bzw. dieses „utopische“ Ökonomiedenken erscheint hier zu Recht als realitätsfern und als übermäßig selbstbezogen.
Reality-based Economics
Dem stellt er Denkweisen gegenüber, die er als „Reality-Based Economics“ bezeichnet: Ökonomische Theorien und Ansätze, die am tatsächlich beobachtbaren Marktgeschehen ansetzen. Es sind dies keineswegs nur marktkritische Denkweisen – auch psychologische Ansätze der Wirtschaftswissenschaften oder die durchaus am angeblich rationalen Handeln der Individuen ansetzende Spieltheorie ordnet er in den Reigen „realitätsbezogenen“ Ökonomiedenkens ein. Dies mag zunächst verstören, ist aber im Rahmen seiner Unterscheidung von „Utopian Economics“ und „Reality-Based Economics“ durchaus nachvollziehbar: Wenn utopisch der Glaube an Markteffizienz ist, dann sind alle Ansätze realitätsbezogen, die mangelnde Markteffizienz nachweisen.
Selbstverständlich dürfen in einer Darstellung „realitätsbezogener“ wirtschaftswissenschaftlicher Theorien und Ansätze die Überlegungen John Maynard Keynes' und der sich auf ihn berufenden Schulen nicht fehlen. In gewisser Weise erscheint Keynes bei Cassidy als Telos, auf den das kritische Ökonomiedenken notwendig zuläuft. Tatsächlich ist die Keynes'sche Kritik der Marktwirtschaft durchaus sehr breit angelegt – breiter, als politisch Handelnde und auch viele Linke häufig anzuerkennen bereit sind. Fragen der Verfügbarkeit von Informationen, der gesamtgesellschaftlichen Irrationalität rationalen Verhaltens oder der Abstraktheitsgrade des Agierens an Finanzmärkten seien hier beispielhaft, aber bei Weitem nicht erschöpfend genannt.
Cassidy findet bei Keynes vieles, was in zahlreichen „realitätsbezogenen“ Theorieschulen mühsam gegen den „utopischen“ wirtschaftsliberalen Mainstream durchgesetzt werden musste. Das Verdrängen Keynes' aus dem wirtschaftswissenschaftlichen Zentrum, hin zu einer Außenseiterposition, erweist sich vor diesem Hintergrund als hochgradig falsch. Der Wirtschaftsliberalismus musste sich dem gegenüber viele Feststellungen und Gedanken neu erarbeiten, die er als innovativ und kritisch verkauft, die sich tatsächlich aber in der keynesianischen Denktradition schon längst finden.
Die aktuelle Krise
Cassidys Argumentationskette ist aus sich heraus durchaus schlüssig. Tatsächlich hat sich kritisches, vor allem keynesianisches Denken in der Krise als erklärungsstark erwiesen. Die Arbeiten Hyman Minskys zur Entstehung von Blasen an Finanzmärkten wären hier beispielhaft zu nennen. Und es waren keynesianische Rezepte, die von zahlreichen Regierungen – entgegen der jahrzehntelang gepredigten vermeintlichen Wahrheiten – in der ersten Phase der Krise angewendet wurden. Dies geschah durchaus mit einigem Erfolg: Die Konjunkturpakete haben, bei aller Kritik im Detail, einen noch gravierenderen Absturz der Wirtschaft verhindert. Es hat sich gezeigt: Der Staat spielt eine zentrale Rolle in der Wirtschaft – ausgerechnet jener Staat also, der seitens der Marktradikalen Jahrzehnte lang verteufelt wurde.
Auf der anderen Seite ist eben jenes marktradikale und liberale Denken, das seit dreißig Jahren Wirtschaftspolitik und Wirtschaftswissenschaften bestimmt und verdummt hat, grandios gescheitert. Ein Scheitern allerdings, das in der aktuellen zweiten Phase der Krise – Stichwort Eurokrise – eine geradezu absurde Umkehrung erfährt. Mit großem Erfolg ist es den liberalen Ideologen verschiedenster Parteibücher und Lehrstühle gelungen, die aufgrund von Bankenrettungen und Konjunkturpaketen explodierten Staatsschulden zur Krisenursache schlechthin zu erklären. Eine klassische Umkehrung von Ursache und Folge markiert die Rückkehr eines selbstbewussten, weil umso utopischeren marktradikalen Liberalismus. Wirtschaft von den Füßen auf den Kopf gestellt.
Man wird Cassidy nicht vorwerfen können, dass er hierauf in seinem Buch nicht eingegangen ist. Schließlich hat er dieses schon mit Ende der ersten Phase der Krise beendet. Kritisch anzumerken wäre allerdings durchaus, dass Cassidy geradezu zwanghaft versucht, sich von marxistischen Ansätzen der Gesellschafts- und Kapitalismusanalyse zu distanzieren. Dies ist noch ärgerlicher, als er sich hierdurch die Möglichkeit verbaut, mögliche Interessen und antagonistische Interessengegensätze hinter den ideologischen Auseinandersetzungen zwischen utopischen und realitätsbezogenen Theorien und Ansätzen zu erkunden. Ohne dies nämlich erscheint die Abfolge verschiedener wirtschaftstheoretischer Denkweisen bestenfalls als Abfolge von Modeerscheinungen, schlechtestenfalls als reiner Zufall. Genau damit haben wir es aber nicht zu tun: Die derzeit zu beobachtende Wiederkehr eines um so radikaleren und verbohrteren Marktradikalismus erfolgt nicht im luftleeren Raum, sondern sie ist grundlegende ideologische Voraussetzung eines Umverteilungsprozesses auf Kosten von Beschäftigten, Rentnerinnen und Rentnern sowie den Empfängerinnen und Empfängern von Sozialtransfers.
Hinter dieser Politik und hinter diesen Denkweisen stecken Interessen: Wir leben in einer Klassengesellschaft. Es ist schade, dass dieser Aspekt in Cassidys ansonsten absolut überzeugenden und in gut lesbarem Englisch präsentierten Ausführungen völlig fehlt.
Bibliografische Angaben
John Cassidy: How Markets fail. The Logic of Economic Calamities. London: Penguin Books 2010. ISBN 978-0-141-03651-9. 409 Seiten.
Der Text erschien zuerst in kritisch-lesen.de Ausgabe 14/2012.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.