Rezension
Rezension: Prolls. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse
18. November 2013 | Sebastian Friedrich
Das Buch zeigt den Klassenkampf von oben am Beispiel Großbritanniens auf und verdeutlicht die Dringlichkeit, Klassen wieder mehr ins Blickfeld zu rücken.
Als im April diesen Jahres die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher starb, kam es im Londoner Arbeiter_innenbezirk Brixton zu spontanen Freudenfesten auf den Straßen. Andere, insbesondere das Establishment, waren bestürzt über den Tod einer in ihren Augen zwar umstrittenen, aber letztlich großen, gar revolutionären Politikerin. Die Bewertung der Lebensleistung Thatchers in den Tagen nach deren Tod legen Zeugnis von der Spaltung der britischen Gesellschaft ab. Der Journalist Owen Jones beschreibt die britischen Zustände der „Dämonisierung der Arbeiterklasse“ in seinem Buch „Prolls“ (bol.de, thalia.de, buch.de, ebook.de), das in England für einiges Aufsehen gesorgt hat. Darin zeigt er ohne Umschweife die Interessen hinter der tief verankerten Verachtung gegenüber den Arbeiter_innen auf, die das Erbe einer traditionellen Klientelpolitik der Oberschicht ist und insbesondere durch Thatcher in den 1980er Jahren angeheizt wurde. Die Abscheu gegenüber der Arbeiter_innenklasse ist zwar in Großbritannien besonders stark ausgeprägt, aber sie unterscheidet sich nicht wesentlich von der in Deutschland.
„Prolls“ und „Neue Unterschicht “
Jones führt unzählige Beispiele der Dämonisierung der Arbeiter_innenklasse an. So wirbt ein Fitnessstudio für Kurse zur „Proll-Bekämpfung“ und ein Reiseveranstalter garantiert für „prollfreie Aktivurlaube“. Der Autor verfällt bei der Darstellung von solchen Exempeln nicht der beliebten Deutung, bei der „Proll“-Schelte handle es sich schlicht um ein Vorurteil oder eine Modeerscheinung. Die Abwertungen der Arbeiter_innenklasse ist nichts weniger als Produkt eines Klassenkampfes von oben. Besonders aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist das Kapitel „Klassenkämpfer“, in dem es vor allem um die konservative Partei, die Tories, und den Umbau der Gesellschaft durch Thatcher geht. Dafür entlockte Jones einem führenden Tory-Politiker des gemäßigten Flügels die Aussage, dass die konservative Partei seit jeher ein Zusammenschluss privilegierter Interessen sei. Die Partei „ist vor allem dazu da, diese Privilegien zu verteidigen. Wahlen gewinnt sie, indem sie anderen Leute gerade genug zugesteht“, fuhr der Politiker fort (S. 70). Unter Thatcher gelang es den Konservativen die Gewerkschaften, an vorderster Stelle die gut organisierten Bergarbeiter_innen, durchschlagend zu schwächen und die verschiedenen Milieus der Arbeiter_innenklasse gegeneinander auszuspielen. Die am meisten von Erwerbslosigkeit und Armut Betroffenen wurden für ihre soziale Situation verantwortlich gemacht, sie seien dumm, faul, stumpf, intolerant und verroht.
Was in Großbritannien schon in den 1980ern gepflegt wurde, trat in Deutschland insbesondere Anfang der 2000er Jahre auf die mediale Bühne. Ein Schlüsselwerk der Debatte um die „Neue Unterschicht“ ist hierzulande das Buch „Generation Reform“ des konservativen Philosophen Paul Nolte, der den Begriff der „Unterschicht“ als Schimpfwort aus soziologischen Fachdebatten adaptierte. Nolte forderte die „Unterschicht“ auf, sich an einer „bürgerlichen Leitkultur“ (Nolte 2004, S. 73) zu orientieren, denn es gehe um ihre „Integration in die Mehrheitsgesellschaft“ und die „Vermittlung kultureller Standards und Leitbilder“ (ebd., S. 69). Die „Unterschicht“ wird zur eigenen abgeschlossenen – minderwertigen – Kultur mit eigenen Codes und Geschmäckern stilisiert. Seitdem wird verstärkt das Bild des faulen, leistungsunwilligen Arbeitslosen bedient, das Christian Baron und Britta Steinwachs jüngst in ihrer Arbeit „Faul, Frech, Dreist“ sehr überzeugend analysiert haben. Auch der aktuelle Erfolg des Buches „Schantall, tu ma die Omma winken!“ von Kai Twilfer verdeutlicht einmal mehr die Konjunktur der Verachtung der „Unterschicht“ in Deutschland.
„New Labour“ und SPD
Jones richtet seine Kritik keineswegs nur an Medien und Tories, sondern widmet sich ebenfalls ausführlich der Rolle von New Labour. Tony Blair und Co. verordneten mit Verweis auf das Leistungsprinzip einen Marsch der Arbeiter_innenklasse in die Mittelschicht und wendeten sich von denen ab, die auf der Strecke blieben. Damit entfernte sich Labour noch weiter von der Arbeiter_innenklasse. Rhetorische Basis für die Abwendung ist das allgegenwärtige Mantra vom Ende der Klassengesellschaft. Diese gebe es nicht mehr in der Dienstleistungsgesellschaft, übrig blieben nur noch eine klitzekleine Oberschicht, eine abgehängte „Unterschicht“ und eine riesige Mittelschicht. Jones nimmt diese Ideologie geschickt auseinander und verdeutlicht überzeugend die Überschneidung zwischen denjenigen, die heute etwa in Callcentern ausgebeutet werden, und der traditionellen Arbeiter_innenklasse:
„Die neue Arbeiterschicht hat mit der alten eines gemeinsam: Sie besteht aus jenen, die für andere arbeiten und über ihre Arbeit keine Kontrolle haben. Die neuen Jobs sind weniger schmutzig und brauchen weniger Muskelkraft. Schnell tippen zu können ist wichtiger, als viel tragen zu können. Jobs in Büros, Geschäften und Callcentern sind oft schlecht bezahlt und langfristig nicht sicher. Schon vor der Rezession stagnierten die Löhne oder sanken sogar. Millionen Arbeitnehmer wechseln immer häufiger den Job. Gemeinschafts- und Zugehörigkeitsgefühle sind ebenso verschwunden wie der Stolz auf gute Arbeit. Die Arbeitsbedingungen besonders der weitgehend rechtlosen Zeitarbeiter sind oft schlecht. Große Teile der Arbeitnehmerschaft sind nicht gewerkschaftlich organisiert, und die Gewerkschaften haben immer weniger Einfluss.“ (S. 199)
Alles in allem hat Labour die letztgenannte Tendenz mit beeinflusst, indem sie den Kurs Thatchers weiterführte. In Deutschland hat die Sozialdemokratie eine ähnliche Verantwortung − vielleicht sogar eine noch größere, da eine von den Sozialdemokrat_innen geführte Bundesregierung ausschlaggebende Veränderungen sogar wesentlich vorantrieb. Zwar wurde in der Bundesrepublik bereits im Jahr 1982 die sozialliberale Koalition durch einen neoliberalen Vorstoß von Graf Lambsdorff gestürzt, dennoch wurden erst 16 Jahre später − und somit nach der Kohl-Ära − durch Rot-Grün weitreichende Maßnahmen zur Verschärfung neoliberaler oder neosozialer Politik vorangetrieben. Im August 2002 übergab Peter Hartz dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder die Vorschläge zur Reform des Arbeitsmarktes. Mittlerweile ist die rot-grüne Agenda 2010 umgesetzt, der Arbeitsmarkt flexibilisiert und der Niedriglohnsektor massiv ausgebaut worden. Das ging zumeist auf Kosten von geringqualifizierten Arbeiter_innen, Angestellten und Sozialleistungsabhängigen, deren Bild in der Öffentlichkeit sich seitdem stets verschlechtert hat.
„Multikulturalismus“ und „Integration“
Es ließen sich noch weitere Ähnlichkeiten zwischen dem britischen und dem deutschen Kontext finden, allerdings lassen sich auch Unterschiede herausstellen. Erstaunlich dünn ist das Buch an Stellen, in denen es um die Überschneidung zu Rassismus geht. Zwar stellt Jones im Vorwort zur zweiten Auflage klar, dass Rassismus eine spezifische Form der Unterdrückung und der Ausbeutung ist (S. 15), dennoch wird dieses Thema kaum noch aufgegriffen. Das kann daran liegen, dass der Autor die Reichweite des Rassismus vernachlässigt. Näher liegt aber, dass sich hier der Kontext zumindest teilweise unterscheidet. Darauf deutet die Einschätzung von Sibille Merz hin, die in einem Aufsatz des gerade erschienenen Sammelbandes „Nation − Ausgrenzung − Krise“ den Zusammenhang von Krise, Nation und Ausgrenzung in Großbritannien analysierte. Laut Merz hielten längst totgeglaubte Rassismen wieder verstärkt Einzug in Debatten, zugleich bedient „sich die diskursive Produktion der Unterschicht, im Gegensatz zur Diskussion in Deutschland, erstaunlich wenig ethnisierender Konstruktionen“ (Merz 2013, S. 146).
Die „Ethnisierung der Unterschicht“ in Deutschland wird keinesfalls nur von Thilo Sarrazin oder Heinz Buschkowsky betrieben. Vielmehr zeigt sich, dass es vor allem die „liberalen“ Kritiker_innen an Sarrazin und Co. sind, die zunehmend im Integrationsdiskurs dominieren und gewissermaßen als Entgegnung auf biologistischen und kulturalistischen Rassismus die Kategorie der vermeintlich neutralen Leistung hervorheben. Leistungswilligkeit fällt im deutschen Integrationsdiskurs mit Integrationswilligkeit zunehmend zusammen und führt im Effekt zur Einteilung zwischen „Musterbeispielen gelungener Integration“ und „Integrationsverweigerern“ (Friedrich/Schultes 2011). Der Erfolg der als „integriert“ Begriffenen bildet den Beweis dafür, dass man „es“ eben doch schaffen kann, wenn man sich richtig anstrengt – gleichzeitig werden „Musterbeispiele gelungener Integration“ zu Ausnahmen stilisiert. Existierender Rassismus als Faktor für nationale und internationale Arbeitsteilung wird in dieser Weise verschleiert. Mehr noch: Bei der von der Dämonisierung der Arbeiter_innenklasse bekannten Deutung, Menschen befänden sich aufgrund selbstverschuldeter Leistungsverweigerung in Armut, entfällt struktureller Rassismus (etwa am Arbeitsmarkt) als Begründung für die Positionen vieler (Post-)Migrantinnen am unteren Ende sozialer Rangskalen. In herrschender Logik wird die Existenz einer „migrantischen Unterschicht“ auf eine vermeintliche „Kultur der Leistungsverweigerung“ oder „Leistungsunfähigkeit“ zurückgeführt. Diese Kultur kann dann je nach Façon wieder auf Gene, Religionen, „Rassen“ oder „Kulturkreise“ zurückgeführt werden. Zumindest im deutschen Kontext wird Armut und soziale Marginalisierung also verstärkt auf die Herkunft zurückgeführt.
Klassen und Kämpfe
Ausgesprochen überzeugend ist „Prolls“ an jenen Stellen, an denen die Hintergründe für das negative Bild beschrieben werden. Dabei bleibt Jones nicht auf der Ebene der Skandalisierung, sondern er lässt in einfühlsamen Reportagen die Betroffenen zu Wort kommen und bietet somit eine andere Realität an. Dabei geht es ihm nicht darum, den alten Zeiten hinterher zu trauern, in denen Arbeiter_innen noch einen höheren Stellenwert hatten und das Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital ausgeglichener schien. Vielmehr möchte er die Klassenthematik einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen, weshalb er sich mit theoretischen Ausführungen weitgehend zurückhält. Das ist keinesfalls eine Schwäche, sondern vielmehr eine Stärke des Buches: Es ist verständlich, auch für Menschen, die mit der akademischen Sprache nicht bestens vertraut sind. Dass es Jones nicht einfach nur um soziale Anerkennung der ausgebeuteten Klassen geht, wie es häufig in liberalen Diversity- und Gleichstellungs-Diskursen der Fall ist, ist umso erfreulicher. Unmissverständlich heißt es dazu am Ende der ausführlichen und aufschlussreichen Einleitung:
„Vor allem geht es mir nicht darum, einfach einen Einstellungswandel zu fordern. Klassenhass gibt es nur in einer gespaltenen Gesellschaft. Letztendlich müssen wir nicht gegen Vorurteile kämpfen, sondern gegen das, was sie ermöglicht.“ (S. 42)
Der Kampf gegen das, was den Klassenhass und somit auch die Klassengesellschaft ermöglicht, setzt eine Beschäftigung mit Klassenverhältnissen voraus, die gerade auch innerhalb der Linken in Deutschland intensiviert werden sollte. Selbst in betont „emanzipatorischen“, meist akademischen Kreisen wird sich allzu gern über „Prolls“ und die „Unterschicht“ lustig gemacht und die soziale Marginalisierung der Arbeiter_innenklasse ausgeblendet. Owen Jones liefert Ansätze, um das Schweigen über die Verhältnisse zu durchbrechen und wieder eine gemeinsame Sprache zu finden − und vor allem eines zu erkennen: Das entscheidende Mittel für die Mächtigeren im Klassenkampf ist es, den Klassenkampf zu leugnen. Das gilt nicht nur in Großbritannien und in Deutschland.
Zusätzlich verwendete Literatur
- Baron, Christian / Steinwachs, Britta (2012): Faul, Frech, Deist. Diskriminierung von Erwerbslosigkeit durch BILD-Leser*innen. Edition Assemblage, Münster.
- Friedrich, Sebastian / Schultes, Hannah (2011): Von „Musterbeispielen“ und „Integrationsverweigerern“. Repräsentationen von Migrant_innen in der „Sarrazindebatte“. In: Friedrich, Sebastian (Hg.): Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der „Sarrazindebatte“. Edition Assemblage, Münster. S. 77-95.
- Merz, Sibille (2013): Zwischen „Big Society“ und „Aspiration Nation“. Krise, Nation und Ausgrenzung in Großbritannien. In: Sebastian Friedrich / Patrick Schreiner (Hg.): Nation − Ausgrenzung − Krise. Kritische Perspektiven auf Europa. Edition Assemblage, Münster. S. 139-150.
- Nolte, Paul (2004): Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik. C.H. Beck, München.
Bibliographische Angaben
Owen Jones: Prolls. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse. Verlag André Thiele, Mainz 2012. 330 Seiten, 18,90 Euro. ISBN 978-3940884794 (bol.de, thalia.de, buch.de, ebook.de).
Dieser Text erschien zuerst in Ausgabe 29 von kritisch-lesen.de. Ich danke für die Genehmigung zur Übernahme des Textes. Hinsichtlich des Copyrights gelten die auf kritisch-lesen.de beschriebenen Bedingungen.
Sebastian Friedrich ist Journalist und Publizist aus Hamburg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Sozialstaatsdiskurse, Neue Rechte, AfD, Kritische Soziale Arbeit, Diskursanalyse sowie Klassenanalyse. Als @formelfriedrich twittert er regelmäßig. Seine Homepage: sebastian-friedrich.net.