Rezension
Rezension: Verteilungskampf
20. April 2016 | Kai van de Loo
Erstmals seit langem hat einer von Deutschlands so genannten „Top-Ökonomen“, Marcel Fratzscher, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), eine vernachlässigte volkswirtschaftliche Fragestellung, nämlich die Verteilungsfrage, wieder aufgegriffen und zu einem öffentlichen Thema gemacht. In seinem neuen, im März 2016 erschienenen Buch "Verteilungskampf“ befasst er sich mit der hohen und zunehmenden Ungleichheit in Deutschland und deren schädlichen Folgen. Die wirtschaftliche Ungleichheit ist in Deutschland seit den 1990er Jahren „deutlich stärker als im (internationalen) Schnitt“ gestiegen. Heute ist Deutschland de facto, so konstatiert Fratzscher, „eines der ungleichsten Länder in der industrialisierten Welt“.
Er zeigt auch die Folgen auf und zieht als Fazit eine alles andere als frohe Botschaft:
„Wohlstand für alle, nach Ludwig Erhards berühmter Formel, ist das Ziel, dem sich die deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik seit über 60 Jahren verschrieben hat. Dahinter steht das Credo der Sozialen Marktwirtschaft, also der Glaube an eine marktwirtschaftliche Ordnung, die eine Absicherung aller Bevölkerungsgruppen und einen Ausgleich zwischen ihnen gewährleisten soll … Die Ungleichheit zwischen den Bürgern sollte begrenzt werden … Dieses Buch hat Belege dafür angeführt, dass wir nicht in einem Land leben, in dem ein Ausgleich über Einkommen, Vermögen und Chancen stattfindet. Deutschland ist an diesem Ideal gescheitert.“
Nicht-neoliberale Ökonomen, wie der Autor dieser Rezension, können selten damit einverstanden sein, was die in Medienpräsenz und Politikberatung führenden Vertreter des Faches in Deutschland an ökonomischen Befunden und Rezepten öffentlich verbreiten und was sie alles ausblenden. Doch es gibt manchmal überraschende Ausnahmen. Eine davon ist Marcel Fratzscher mit diesem neuen Buch. Der Titel "Verteilungskampf" ist dabei nicht misszuverstehen. Gegenstand des Buches ist nicht der Verteilungskampf als Aktion, sondern der Trend zur immer größeren Ungleichverteilung in Deutschland, der gerade auch in internationalen Vergleichen hervorsticht, die Fratzscher sehr verdienstvoll angestellt hat, die aber hierzulande eben bisher kaum thematisiert werden. Dabei ist die Debatte über Verteilungsfragen international spätestens seit Thomas Piketty wieder im vollen Gange. Sie wird in der Wirtschaftswissenschaft zum Beispiel von Nobelpreisträgern wie Amartya Sen, Joseph Stiglitz oder Paul Krugman intensiv geführt. Der angesehene britische Ökonom Anthony B. Atkinson hat die Ungleichheitsforschung seit langem zu seinem Lebensthema gemacht, ebenso der frühere Weltbank-Chefökonom Branko Milanovic. In jüngerer Zeit haben auch die OECD oder im Frühjahr 2016 auch der US Council of Economic Advisers (der US-amerikanische Sachverständigenrat Wirtschaft) die enorme Bedeutung der zunehmenden Ungleichheit bzw. des „inklusiven Wachstums“ anerkannt. Doch in Deutschland ist die Verteilungsdebatte seit 25 Jahren für den Mainstream eher ein Anathema gewesen, jedenfalls jenseits von linken und gewerkschaftlichen Kreisen. „Das Schattenreich“ lautete denn auch sinnigerweise der Titel des ersten Vorabberichts des SPIEGEL zum Buch von Fratzscher.
Bei der SPIEGEL-Lektüre war ich zunächst noch skeptisch, ob hier nicht ein Teil des Mainstreams, zu dem Fratzscher bisher zu zählen ist, einfach dem Zeitgeist folgt, der die national wie international immer stärker diskutierte Verteilungsfrage nicht länger leugnen kann und sie statt dessen zu besetzen, einzuhegen oder umzudeuten versucht. Nach der Lektüre des Buches kann ich diesen Vorbehalt aber nicht mehr aufrechterhalten. Denn darin werden nicht nur die aktuellen Fakten der Ungleichverteilung aufgezeigt, sondern auch, dass die wirtschaftswissenschaftliche Forschung inzwischen gut belegen kann, dass (zu) hohe und zunehmende Ungleichheit gravierende negative ökonomische Konsequenzen hat:
- Die Ungleichheit reduziert auf die Dauer das Wirtschaftswachstum
- Die Ungleichheit mindert das volkswirtschaftliche Humankapital
- Die Ungleichheit verschärft das gesellschaftliche Armutsproblem
- Die Ungleichheit beeinträchtigt die Gesundheit erheblicher Bevölkerungsteile
- Die Ungleichheit verschärft den gesellschaftlichen Verteilungskampf
- Die Ungleichheit vertieft die Ungleichgewichte bei Schulden und Sparen
- Die Ungleichheit war ein Mitverursacher der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise (und sie kann es wieder sein)
- Die Ungleichheit schafft Abhängigkeit vom Staat und schränkt individuelle Freiheiten ein
- Die Ungleichheit schädigt soziale und politische Teilhabe (und gefährdet damit nicht nur massiv die Chancengleichheit, sondern das Funktionieren der gesamten Demokratie – und so wird sie „zur Gefahr für die Demokratie selbst“)
Diese Konsequenzen verdeutlichen, dass die Frage der Ungleichheit nicht allein eine Frage der sozialen (Un-)Gerechtigkeit ist, über die man rein normativ streiten kann - was ist schon gerecht? -, sondern dass sie massiven gesamtwirtschaftlichen Schaden anrichtet. Und der ist in Deutschland, so Fratzschers Diagnose, leider Realität. Die größere Ungleichheit ging und geht nicht, wie von interessierter Seite immer wieder behauptet worden ist, mit wirtschaftlichem Wachstum und Fortschritt einher, wodurch der verteilbare Kuchen für alle größer werde, sondern ihr wirkliches Resultat sind weniger Wachstum, schlechtere Jobs und geringere Investitionen. Das stelle Deutschland inzwischen vor riesige Herausforderungen, habe die Zukunftsperspektive unseres Landes verschlechtert und die Verteilungsproblematik infolgedessen noch verschärft. Dieser Schaden treffe zwar zuerst die mit den geringsten Einkommen, Vermögen und Chancen. Aber nicht nur sie, denn er verursacht gesamtwirtschaftliche Kosten für (fast) alle. Von mehr Chancengleichheit würde nämlich nicht nur der Einzelne profitieren, der seine Fähigkeiten besser nutzen und entfalten kann. Es wäre zum Nutzen aller anderen Bürger und der Unternehmen, wenn die wirtschaftliche Produktivität durch motiviertere, qualifiziertere und mobilere Arbeitskräfte insgesamt steigt, die Kaufkraft der Konsumenten zunimmt und das Funktionieren von Gesellschaft und Demokratie gesichert wird.
Fratzscher räumt grundsätzlich ein, dass Ungleichheit rein ökonomisch betrachtet zunächst einmal ein Phänomen ist, das man von vorneherein weder als schlecht noch als gut bewerten kann. Bis zu einem gewissen Grad gibt es sicherlich ein Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit einerseits und Effizienz und Freiheit andererseits. Er bemüht einige sozialphilosophische Debattenbeiträge (Amartya Sen, Gerald Cohen, John Rawls, Robert Nozick, Isaiah Berlin) und zieht daraus den Schluss: Völlige Gleichheit kann und sollte es in einer Marktwirtschaft nicht geben, weil die Ungleichheit bis zu einem gewissen Grad den Erfolg, die Leistung und die Risikobereitschaft freier Entscheidungen im Wirtschaftshandeln reflektieren kann. Doch wenn dieser gewisse Grad überschritten und die Dosis an Ungleichheit zu groß wird, vor allem wenn sich Ungleichheit verfestigt und die sozial schwächeren Bevölkerungsgruppen dauerhaft abgehängt werden, so dass Talent, Leistung und auch politische Teilhabe aufgrund sozialer Herkunft blockiert werden, beeinträchtigt das wirtschaftliche Effizienz und Freiheit insgesamt.
Die Diagnose von Fratzscher ist umfassend angelegt und inhaltlich fundiert, zugleich sprachlich klar zum Ausdruck gebracht. Letzteres wirkt manchmal holzschnittartig, erlaubt aber klare Botschaften. Statt „Wohlstand für alle“, wie das einst Ludwig Erhard propagiert hat, sei heute nur noch „Wohlstand für wenige“ im Angebot. Das klassische Erhard’sche Ziel des „Wohlstand für alle“, das mittels der Ordnung der „Sozialen Marktwirtschaft“ Marktfreiheit und sozialen Ausgleich verbinden und dadurch die soziale Sicherung und Wohlstandsmehrung aller Bevölkerungsgruppen gewährleisten sollte – ein Anspruch, der jahrzehntelang einigermaßen getragen habe – sei heute nur noch eine „Illusion“. In diesem Sinne existiere die „Soziale Marktwirtschaft“ in Deutschland nicht mehr. Die neue deutsche Marktwirtschaft zeige ihr wahres Gesicht in einer stark zunehmenden Ungleichheit, der nur schwache Ausgleichsmechanismen entgegenwirken. Wer oben ist, bleibt oben, und unten ist, der unten – und nach unten fallen tendenziell immer mehr. Ein Exkurs unterstreicht, dass die aktuelle Flüchtlingskrise diesen Verteilungskampf nicht erzeugt hat, sondern sich nur mit diesem verwickelt und ihn verschärft – der eigentliche Verteilungskampf läuft schon viel länger, die Zunahme der Diskrepanz bei Einkommen und Vermögen sowie die eklatanten Schwächen etwa im deutschen Steuer- und Bildungssystem existieren schon seit mehr als einem Jahrzehnt.
Als Ursachen dafür sieht Fratzscher den in Deutschland wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisch praktizierten Umgang mit der fortschreitenden Globalisierung sowie Ineffizienzen des bestehenden staatlichen Sozial- und Umverteilungssystems sowie der Finanzpolitik. Außerdem die mangelhafte politische Gewährleistung des Prinzips der Chancengleichheit. Darin sieht er „die größte Schwäche und das größte Scheitern der deutschen Politik und Gesellschaft“. Deutschland investiere viel zu wenig in Bildung und gebe vor allem „ungewöhnlich wenig Geld für die frühkindliche Bildung“ aus – fast die Hälfte weniger als der OECD-Durchschnitt, was der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung selbst belegt. Zwar habe es in diesem Bereich in den letzten Jahren eine Nachsteuerung und einen Ausgabenanstieg gegeben, doch zu wenig, Deutschland stehe im internationalen Vergleich immer noch schlecht da. Auch wenn die Höhe der Ausgaben nicht allein entscheidend sei für die Güte eines Bildungssystems, so könnten doch Qualität und Effizienz der Maßnahmen zu begrenzte Ressourcen nicht wettmachen. Die Folge sei, dass in kaum einem anderen industrialisierten Land Kinder aus einem sozial schwachen, bildungsfernen, ausländischen oder von einem alleinerziehenden Elternteil geprägten Umfeld so schlechte Aufstiegschancen habe wie in Deutschland. In einem Kapitel mit dem Titel „Zwei deutsche Schicksale“ beschreibt er exemplarisch den fiktiven Lebensweg von zwei Menschen in Deutschland, die trotz gleicher Intelligenz, gleicher Talente, gleichem Fleiß und Ehrgeiz durch die wirtschaftlichen und sozialen Weichen, die schon lange vor ihrer Geburt gestellt worden sind, keineswegs die gleichen Chancen auf Wohlstand, Teilhabe und Selbstverwirklichung haben. Die Beispiele sind fiktiv, aber es gebe heute in Deutschland unzählige Menschen, auf die sie zutreffen und gelte, wie die empirischen Zahlen zeigen, für alle gesamtwirtschaftlich wesentlichen Verteilungsaspekte, nämlich für die Verteilung von Vermögen, von Einkommen und von Aufstiegschancen. Das wird allerdings nicht in jedem Einzelaspekt ersichtlich, sondern erst bei einer Gesamtbetrachtung des „Puzzles“:
Vermögen: Bei der Betrachtung der Vermögensverteilung überrascht zunächst, dass Deutschland zwar im Industrieländervergleich seit langem zu den Ländern mit den höchsten Pro-Kopf-Einkommen und der höchsten Sparquote gehört, was auf eine im Durchschnitt entsprechend hohe Vermögensbildung hinweisen würde. Doch tatsächlich gehört Deutschland im Vergleich der Nettovermögensposition (Finanz- und Sachvermögen einschließlich Immobilien abzüglich Schulden) des Durchschnittshaushalts (Medianwerte) zu den schwächsten Ländern in Europa. Auch wenn man landesspezifische Unterschiede in den Haushaltsgrößen sowie den Anteil und die Bewertung von Immobilien berücksichtigt, ändert sich für das Gros der deutschen Bevölkerung nichts an dieser Tatsache. Zwar gibt es in Deutschland zum Teil größere Ansprüche auf gesetzlich geregelte Rentenanwartschaften als in anderen Ländern; doch sind diese Ansprüche keineswegs verfügbar, sondern an bestimmte Anspruchskriterien gebunden und sie stellen schon definitorisch keine Vermögenswerte dar – ein Vermögenswert erlaubt es, mit ihm bei der Nutzung oder der Einkommenserzielung selbst zu disponieren, er kann gegen Geld veräußert, beliehen und auch vor Wertverlust abgesichert werden und er erfüllt Macht-, Sozialisations- und Prestigefunktionen. Darüber hinaus ist der heutige Wert der künftig zu erwartenden Renten in Deutschland im internationalen Vergleich inzwischen klar unterdurchschnittlich. Wie also ist die beschriebene Diskrepanz zu erklären? Mit der enormen Vermögensungleichheit. Nimmt man ein gängiges Verteilungsmaß wie den Gini-Koeffizienten zum Maßstab, so weist Deutschland unter allen Länder der Eurozone die höchste Vermögensungleichheit (Koeffizientenwert 0,76) auf. Vergleicht man zudem die Schichtungen in der privaten Vermögensverteilung, zeigt sich, dass in kaum einem anderen Land ein höherer Vermögensanteil auf das reichste eine Prozent der Bevölkerung entfällt (knapp 30 Prozent) und dass die reichsten 10 Prozent fast zwei Drittel (rund 63 Prozent) des Volksvermögens besitzen. Die ärmere Hälfte der deutschen Bevölkerung verfügt demgegenüber heute über fast kein Nettovermögen. Die vermögensmäßig ärmsten 20 Prozent in Deutschland weisen statistisch sogar ein negatives Nettovermögen auf, sie sind überschuldet. Die Reichen in Deutschland sind demnach reicher als im übrigen Europa und anderen Industrieländern, die ärmeren Schichten sind dagegen relativ ärmer. Und die („Mittel“-)Schicht dazwischen erodiert. Ein wichtiger Grund dafür lässt sich aus der deutschen Steuerpolitik ablesen: Die vermögensbezogenen Steuern haben in Deutschland mit einem Anteil von 0,8% des BIP eine Größenordnung von weniger als der Hälfte des OECD-Durchschnitts (1,8%).
Einkommen: Eine Art „Puzzle“ ist auch bei der Analyse der Einkommensverteilung nötig. So stimmt vordergründig die Behauptung, dass die Ungleichheit bei der Verteilung der laufenden Einkommen in Deutschland seit 2005 tendenziell kaum zugenommen hat, wozu der Rückgang der Arbeitslosenzahl erheblich beigetragen hat. Auch erfolgt in Deutschland – anders als bei Vermögen – bei den laufenden Einkommen im Vergleich zu anderen Ländern eine relativ große Umverteilung durch Steuern, Abgaben und Sozialleistungen. Schaut man genauer hin und fügt einzelne Puzzleteile zusammen, zeigt sich aber Folgendes: Trotz gestiegener Beschäftigung und Rekordzahlen an Erwerbstätigen gibt es bisher weder Vollbeschäftigung, noch hat die Einkommensungleichheit abgenommen. Denn Einkommenszuwächse gab es hauptsächlich für die höchsten Lohneinkommen sowie Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen. Die bezogen auf die Lohneinkommen untere Hälfte der deutschen Arbeitnehmer musste dagegen in den vergangenen 15 und mehr Jahren Reallohnverluste erleiden. Im Gesamtbild zeigt sich, dass Deutschland auch bei den Markteinkommen, also der so genannten Primärverteilung, zu den Industrieländern mit der höchsten Ungleichheit gehört. Gleichzeitig versucht der deutsche Staat, diese hohe Ungleichheit der Einkommensverteilung durch eine Reihe finanzieller Umverteilungsmaßnahmen im Steuer- und Transfersystem zu verringern. Im Ergebnis liegt die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen in Deutschland heute ungefähr im OECD-Durchschnitt, doch „in kaum einem anderen Land die Spreizung zwischen verfügbarem Einkommen und Markteinkommen größer.“ Infolgedessen weist Deutschland tatsächlich bei den Einkommen – nicht beim Vermögen – einen der höchsten Grade an staatlicher Umverteilung aus. Das jedoch nur, weil die Primärverteilung so ungleich ist. Zugleich ist die staatliche Umverteilung recht ineffizient und ungenau, wie die Zunahme der Armutsquote, zumal der Altersarmut belegt. Etliche Maßnahmen verteilen bloß innerhalb weniger bedürftiger Bevölkerungsgruppen um. Des Weiteren zeigt sich, „wie viel stärker der deutsche Staat den Faktor Arbeit im Vergleich zum Faktor Kapital und Vermögen besteuert.“
Soziale Mobilität: Wie Fratzscher anhand seiner Zahlen ernüchtert feststellt, schaffen es Bürger mit niedrigem Einkommen und einem geringen Vermögen in Deutschland im internationalen Vergleich „ungewöhnlich selten“, sich im Laufe ihres Lebens finanziell deutlich zu verbessern und „sozial aufzusteigen“. Zugleich gibt es eine außergewöhnliche Beharrungstendenz bei den hohen Einkommen und Vermögen sowie eine starke Wechselwirkung zwischen Einkommen und Vermögen, das heißt die schon vermögenden Bürger in Deutschland erhalten auch besonders hohe Einkommen, was die schon bestehenden Ungleichheiten zementiert und vergrößert. Wer es einmal in die oberen Schichten geschafft hat bzw. dort schon bei Geburt verweilt, hat in Deutschland viel größere Chancen als in anderen Ländern, diese Position lebenslang beizubehalten. Und umgekehrt. Empirisch ganz besonders ausgeprägt ist dieser Stillstand der sozialen Mobilität im oberen und im unteren Zehntel der Bevölkerung. Dies wirkt sogar über Generationen hinweg. In kaum einem anderen Industrieland wird das eigene Einkommen und Vermögen durch die soziale Herkunft so sehr bestimmt wie in Deutschland. Statistisch betrachtet wird das Lebenseinkommen eines deutschen Arbeitnehmers zur Hälfte durch das Einkommen und den Bildungsstand seiner Eltern vorbestimmt. Erbschaften und Schenkungen kommen für Kinder wohlhabender Eltern noch hinzu. Dagegen sind etwa nicht-finanzielle Leistungen des Staates, die zu Korrektur dieser Chancenungleichheit beitragen könnten, in Deutschland vergleichsweise unterentwickelt. Besonders auffällig und folgenreich sei dies bei den Bildungsinvestitionen. Hier gebe Deutschland mit einem langfristigen Anteil von 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts stetig weniger aus als der OECD-Durchschnitt (5 Prozent). Das könne auch nicht mit der Demografie erklärt werden, denn andere Länder mit ähnlich hohem Pro-Kopf-Einkommen und ähnlicher Altersstruktur wie die skandinavischen Länder geben überdurchschnittlich viel für Bildung aus (7 Prozent). Die Folge ist, dass sich in Deutschland Kinder aus ärmeren, sprich: einkommens- und vermögensschwachen Hauhalten immer seltener besser stellen als ihre Eltern. Die „unteren“ 40 Prozent der deutschen Gesellschaft sind so sozial geradezu abgehängt worden.
Mit diesen Befunden macht sich Fratzscher in den Gefilden des Mainstream bestimmt keine Freunde, insofern ist er relativ mutig gewesen. In einer Meldung von Reuters über sein Buch hieß es etwa, er stoße eine neue wirtschaftspolitische Debatte an, indem der die deutsche Orthodoxie herausfordere („by challenging German orthodoxy“). Schon vor zwei Jahren hat er mit seinem vorangegangenen Buch „Die Deutschland-Illusion“ in neoliberalen und konservativen Kreisen angeeckt, in dem er die große Investitionslücke unserer Volkswirtschaft angeprangert, das deutsche „Beschäftigungswunder“ hinterfragt und auf die enorme Bedeutung des Euro und der europäischen Integration für Deutschland hingewiesen hat. Jetzt ist er mit dem „Verteilungskampf“ noch einen Schritt weitergegangen und hat schon als Titel ein Wort gewählt, das selbst Gewerkschaften hierzulande öffentlich kaum noch in den Mund zu nehmen wagen, viele Berliner Sozialdemokraten ganz meiden und bei Neoliberalen sofort Abwehrreflexe hervorruft. So sind auch prompt abwiegelnde Reaktionen der führenden Ökonomen aus diesem Lager erfolgt, von Christoph Schmidt, Lars P. Feld, Clemens Fuest oder Michael Huether, sekundiert von einschlägigen Pressekommentaren (zum Beispiel von Marc Beise/Süddeutsche Zeitung: „Den Reichen nehmen hilft den Armen nicht“). Aus diesem Lager wird Fratzscher noch weiter kritisiert, heftiger beschossen oder zum Außenseiter erklärt werden, da kann man fast sicher sein.
Dabei grenzt er sich auch nach links ab und kritisiert etwa allzu blindes Staatsvertrauen und die in der Realität zum Teil ineffiziente staatliche Umverteilung, die Knebelung von echtem Leistungswettbewerb, eine schlechte private Vermögensbildung oder die völlige Ablehnung der bisherigen deutschen Arbeitsmarktreformen (obschon er ausdrücklich den dadurch verursachten Anstieg „atypischer Beschäftigung“ als einen Treiber der Ungleichheit einstuft). Fiskalische Konsolidierungsbemühungen können seines Erachtens durchaus berechtigt sein, wenngleich er die mit der realen Sparpolitik in der Mehrzahl der OECD-Länder und so auch in Deutschland vollzogenen relativen und zum Teil absoluten Ausgabenkürzungen insbesondere bei Bildung, Gesundheit und öffentlichen Investitionen für doppelt schädlich hält: Sie haben die Ungleichheit erhöht und mit Blick auf Gegenwart und Zukunft das Wirtschaftswachstum vermindert. Er ist auch gegen pauschales Reichen- bzw. Reichtums-Bashing und richtet den Blick und Sinn vielmehr auf die Chancenungleichheit der ärmeren Bevölkerung („Ich habe kein Problem mit den oberen zehn Prozent. Ich habe aber ein Problem damit, dass die unteren 40 Prozent abgehängt werden. Ich will nicht die Reichen ärmer machen, sondern die Armen reicher.“) Sein Buchtitel „Verteilungskampf“ steht auch nicht für das Plädoyer, einen solchen zu beginnen, sondern für die Beschreibung einer Entwicklung, die längst im Gang ist und weiter geht.
Man muss nun gar nicht mit diesen Abgrenzungen und anderen Bewertungen von Fratzscher einverstanden sein, um seine Arbeit zu schätzen. Mir selbst fehlt sowohl bei der Ursachenanalyse als auch bei den Therapievorschlägen so manches. Insbesondere mangelt es bei ihm daran, die Interessen und Ideologien, die hinter der von ihm beschriebenen und beklagten Entwicklung stehen, konkret zu benennen. Einige mit der Verteilungsfrage eng zusammenhängende Themen wie etwa Marktmacht, Vollbeschäftigung, Gewerkschaften, Mitbestimmung oder andere soziale Dimensionen der Nachhaltigkeit spricht er fast gar nicht an. Auch bei seinen Therapievorschlägen ist er eher zurückhaltend und benennt nur einige wenige grobe Ansatzpunkte, die indes alle staatliche Handlungsnotwendigkeiten demonstrieren; dazu zählen eine stärkere Ausrichtung des staatlichen Bildungssystems auf Chancengleichheit und dabei viel mehr Investitionen speziell in frühkindliche Bildung, ferner wesentlich höhere staatliche Infrastrukturinvestitionen, eine stärkere staatliche Unterstützung des privaten Vermögensaufbaus der breiten Masse sowie eine Verbesserung des staatlichen Umverteilungssystems unter anderem durch eine stärkere Besteuerung großer Einkommen, Vermögen und Erbschaften. In diesem Kontext bleibt er jedoch insgesamt recht vage, denn er will mit dem Buch, so erklärt er es selbst, kein komplettes Reformprogramm vorlegen, sondern einen intensiveren öffentlichen Diskurs darüber initiieren, wie die Ungleichheit bzw. deren schädlicher Teil reduziert werden kann. Das ist mehr als wünschenswert. Und seine Diagnose ist stichhaltig.
Zusammenfassung
Die Soziale Marktwirtschaft ist tot, so lässt sich der Befund von Fratzscher nach seiner umfassenden Untersuchung der Ungleichheit bei Vermögen, Einkommen und sozialen Aufstiegschancen auf den Punkt bringen. Der Anspruch des sozialen Ausgleichs und der wirtschaftlichen Chancengleichheit für alle Bürger wird in Deutschland nur sehr unzureichend und immer weniger erfüllt. Das hat gravierende negative volkswirtschaftliche und politische Konsequenzen. Warum es so weit gekommen ist, wird allerdings nur ansatzweise deutlich. Klar herausgearbeitet wird jedoch, dass grundlegende neue politische Weichenstellungen nötig sind, um das zu ändern.
Bibliografische Angaben
Marcel Fratzscher: Verteilungskampf - Warum Deutschland immer ungleicher wird. Hanser-Verlag 2016, ISBN 978-3-446-44465-2, 19,90 Euro, 264 Seiten.
Kai van de Loo ist promovierter Ökonom, 53 Jahre, hauptberuflich bei einem Wirtschaftsverband tätig, privat Mitglied der IG BCE und nebenamtlich Lehrbeauftragter für Volkswirtschaftslehre an der Technischen Hochschule Georg Agricola in Bochum.