Rezension
Rezension: Warum unsere Kinder Tyrannen werden
26. Februar 2015 | Christian Baron
Mit seinem alarmistischen Ruf nach Ordnung und Disziplin und gefährlichen, weil reaktionären Thesen hat der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff 2008 einen Bestseller gelandet.
In der noch recht jungen Bestsellerforschung gibt es einen produktionsorientierten Erklärungsansatz, der davon ausgeht, dass vor allem der Zeitpunkt der Veröffentlichung über den Verkaufserfolg eines Buches entscheidet. Eine These, die sich insbesondere im Sachbuch-Segment hierzulande immer dann zu bestätigen scheint, wenn ein provokant daherkommendes Machwerk mit inhaltlichem Rechtsdrall sowie prominentem Namen auf dem Titel massenmedial derart gehypt wird, dass niemand mehr an dessen ausgiebiger Thematisierung vorbeikommt. Übliche Verdächtige sind hier Thilo Sarrazin mit seinem üblen Rassismus, ebenso Margot Käßmann mit ihrem esoterisch angehauchten Seligkeitsfimmel oder Dieter Nuhr mit seinem pseudowitzigen Apologetentum des Neoliberalismus.
Aber auch Bücher, die aus steilen Thesen zum Zustand des Erziehungsstandorts Deutschland bestehen, verkaufen sich seit einigen Jahren wie geschnitten Brot. Der Bonner Therapeut Michael Winterhoff bestätigte diese Theorie seit 2008 sogar, ohne zuvor prominent gewesen zu sein. Mit einem plakativ betitelten, provokanten und deshalb viel beachteten Werk traf er vor sechs Jahren den Nerv der Zeit – und trifft ihn noch immer, wie die zahlreichen Nachfolgebücher beweisen, die stets den gleichen Quatsch in neuem Gewand reproduzieren.
Sein Erstling heißt „Warum unsere Kinder Tyrannen werden” – ein Werk, in dem der Autor nicht mit Pauschalurteilen, die auf schwer nachprüfbaren Einzelfällen beruhen, spart. Vordergründig geht es Winterhoff um eine Analyse des „Erziehungsnotstandes“, den er diagnostiziert haben will. Eltern seien nicht mehr in der Lage, ihre Kinder „intuitiv“ zu erziehen und verirrten sich in „unbrauchbaren Erziehungskonzepten“. So seien Grundschulkinder heutzutage weitgehend nicht mehr fähig, einfachen Aufforderungen zu folgen, während die meisten Sechzehnjährigen sich auf dem psychischen Reifegrad von Dreijährigen befänden. Bemerkbar mache sich dies vor allem in ihrer mangelnden Verwertbarkeit auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt.
Unzureichende Rechen-, Schreib- und Lesefähigkeiten gingen einher mit mangelnder Leistungsbereitschaft sowie Respekt- und Gewissenlosigkeit, die der 59-Jährige seit mindestens zwanzig Jahren als am häufigsten anzutreffende Charaktereigenschaften bei Kindern und Jugendlichen ausgemacht hat. Winterhoffs Analyse des gesellschaftlichen Status quo kann als langweiliges Anti-68er-Genörgel abgetan werden, wie es derzeit en vogue ist; doch wirklich ärgerlich ist das, was er dabei verschweigt. Nach Hinweisen auf die Tendenz der gesellschaftlichen Ausgrenzung all jener, die sich nicht schon ab dem ersten Schuljahr dem grenzenlosen Leistungsdruck gewachsen zeigen, bereits zehnjährig als Nieten tituliert und auf mit neuen Namen verkleisterten, nicht jedoch abgeschafften Hauptschulen abgeschoben werden, sucht man in seinen Büchern vergeblich. An keiner Stelle kommt Winterhoff darauf zu sprechen, dass Persönlichkeitsstörungen nicht nur durch versagende Eltern, sondern auch und sogar vor allem aufgrund des gesellschaftlichen Klimas entstehen können, in dem ein Kind aufwachsen muss.
Keine theoriestützenden Forschungsergebnisse
Winterhoff bestreitet sogar, dass die zunehmende Verwahrlosung ein klassenspezifisches Problem ist: „Ich habe in meiner Praxis vor allem mit engagierten, gesunden und beziehungsfähigen Eltern zu tun. Gute, bürgerliche Mittelschicht.” Bewusst oder unbewusst entlarvt er sich damit allerdings selbst, denn er versieht einen Befund mit gesamtgesellschaftlicher Geltung, der lediglich auf Einzelfällen aus seinem beruflichen Alltag beruht. Zwar klopft Winterhoff sich im Laufe seiner Ausführungen permanent anerkennend selbst auf die Schulter, indem er auf den innovativen Charakter seiner in dieser Form bisher noch von niemand anders formulierten Analysen hinweist, doch fehlen in seinem Werk jegliche Literaturangaben oder auch nur die geringsten Verweise auf theoriestützende Forschungsergebnisse.
Wie die Robert-Koch-Stiftung in einer kurz nach Erscheinen des Winterhoff-Buches publizierten Studie festgestellt hat, zeigen in Wahrheit die allerwenigsten Kinder und Jugendlichen in Deutschland psychische Störungen. Jene, die dennoch darunter leiden, entstammen zu mehr als 85 Prozent ganz bestimmten sozialen Verhältnissen: „Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen und bildungsfernen Haushalten haben einen schlechteren Gesundheitszustand und häufiger psychische Probleme als ihre Altersgenossen aus einkommensstarken und gebildeten Familien”. Seither bestätigt ein Forschungsergebnis nach dem anderen genau diesen Befund.
Statt dies zur Kenntnis zu nehmen, greift Winterhoff zur Beantwortung der Frage, wie es zu jener angeblichen psychischen Fehlentwicklung einer ganzen Generation kommen konnte, tief in die Werkzeugkiste der Psychoanalyse und arbeitet ein dreistufiges Modell heraus: Partnerschaftlichkeit, Projektion und Symbiose. Anhand weniger Extrembeispiele verwirft er das anerkannte Erziehungsmodell, wonach Eltern ihren Kindern nicht diktatorisch, sondern möglichst auf Augenhöhe begegnen sollen. Dies führe notwendigerweise zu einer realen Machtumkehr: „Das Kind kann mehr oder weniger frei über die Eltern verfügen und verpasst damit das Erlernen der Fähigkeit, Autoritäten anzuerkennen.”
Daraus resultiere eine in Zeiten orientierungsloser und sicherheitsbedürftiger Eltern auf fruchtbaren Boden stoßende Projektion: Das Kind werde zur Messlatte des eigenen Selbstwertgefühls und diene einem Elternteil zur Befriedigung des natürlichen Bedürfnisses, geliebt zu werden. Dem schließe sich die totale Verschmelzung der elterlichen Psyche mit der kindlichen an und fixiere den Heranwachsenden damit in einer frühen psychischen Phase, die fortan nicht mehr behebbar sei. Als Opfer dieser apokalyptischen Trias fungieren in erster Linie die armen Lehrer, die sich in Internet-Lehrerbewertungsportalen von ihren tyrannischen Schülern (Winterhoff spricht wörtlich von „brutalen, unmenschlichen Tätern”) demütigen lassen müssen.
Paradigmenwechsel in den Schulen und emotionale Distanzierung zum Kind
Überhaupt läuft für den Psychiater in der Schule alles falsch: Freiarbeit ist für ihn Teufelszeug, der gute alte Frontalunterricht hingegen sei die einzige Möglichkeit, den kleinen Gören endlich wieder Ordnung und Disziplin einzutrichtern. Man staunt als Laie nicht schlecht über diese im eiskalten Feldwebeljargon vorgetragene Missachtung der schlichten Tatsache, dass Kinder durch Frontalunterricht wohl kaum nachhaltig für die Schönheit von Literatur oder die Faszination der Physik zu begeistern sind. „Erkläre es mir – und ich vergesse. Zeige es mir – und ich erinnere mich. Lasse es mich tun – und ich verstehe“ – dieses bereits von Konfuzius formulierte Plädoyer für eigenständiges Denken und Handeln wird heute vielfach wissenschaftlich unterstützt, um Kinder zu emotional gesunden, kritikfähigen und mündigen Erwachsenen zu erziehen.
Winterhoffs dürftige Lösungsvorschläge gehen dagegen über dümmliche Plattitüden kaum hinaus. Neben dem erwähnten Paradigmenwechsel in den Schulen und einer elterlich gebotenen emotionalen Distanzierung zum Kind sei vor allem ausgiebiges Reflektieren über das eigene Tun und Lassen in Bezug auf die psychische Reifung der Kinder wichtig. Zudem ermutigt er die Erwachsenen zu einer bewussten Entschleunigung ihres Lebens. Ein netter Vorschlag, der allerdings jedem abhängig beschäftigten Elternteil ohne grundlegende Abkehr vom „Always-Available”-Dogma des flexiblen Kapitalismus unmöglich erscheinen dürfte.
Am Ende bleibt der Eindruck, dass Winterhoff sich eine Gesellschaft voller Duckmäuser erträumt, in der Immanuel Kants progressive Losung „Sapere Aude“ („Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“) nur noch als Relikt vergangener Tage auftritt. Eine solche Gesellschaft wäre dann eine reine Abrichtungsmaschinerie zur wirtschaftlichen Verwertbarkeit und würde gewiss ganz im Sinne Winterhoffs ausnahmslos „arbeitsmarkttaugliche“ Sechzehnjährige heranzüchten.
Bibliografische Angaben
Michael Winterhoff 2008: Warum unsere Kinder Tyrannen werden. Oder: Die Abschaffung der Kindheit. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh. ISBN: 978-3-579-06980-7. 191 Seiten. 17,95 Euro.
Die Rezension erschien zuerst in kritisch-lesen.de Ausgabe 34 (2015). Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.
Christian Baron ist Journalist bei der Tageszeitung "neues deutschland" und promoviert zum Thema "Klassismus im massenmedialen Sozialstaatsdiskurs".