Runter vom hohen Ross! Warum der deutsche Exportismus die politische Linke schwächt und wie er überwunden werden kann
1. März 2018 | Andreas Nölke
Die linken Parteien Deutschlands befinden sich derzeit in ihrer schwächsten Lage seit langem. Das zeigt sich nicht nur an der Schrumpfung der Zahl ihrer Bundestagsmandate und dem Verlust einer potentiellen linken Mehrheit, sondern auch an den aktuellen Diskussionen. Die SPD ringt mit ihrer Entscheidung zum neuerlichen Eintritt in eine große Koalition, ohne dabei aber deutlich zu machen, für welche alternativen Inhalte sie in einer Neuwahlkampagne werben würde. Die Grünen machen nun auch über die Auswahl ihrer Parteiführung deutlich, dass sie sich nicht mehr als linke Partei verstehen, sondern in der Mitte des Parteienspektrums. Und die Linkspartei verzehrt sich in bitteren persönlichen Auseinandersetzungen, insbesondere zwischen den Lagern von Katja Kipping und Sahra Wagenknecht.
Verschärft wird die aktuelle Krise der linken Parteien noch durch die Abwanderung großer Teile ihrer klassischen Kernklientel im Arbeitermilieu zur rechtspopulistischen AfD – oder in die Wahlenthaltung. Wenn sich diese Tendenz verfestigt, rücken in Deutschland Mehrheiten für progressive Politik in weite Ferne. Um in dieser Situation wieder in die Offensive zu kommen, benötigt die deutsche Linke ein neues inhaltliches Projekt, eine »Hegemonialstrategie«.
Ausgangspunkt für ein solches Projekt sollte eine Analyse der Gründe sein, die potentiell linke Wähler zu einer rechten Partei treiben. Zum Teil sind das chauvinistisch-rassistische Motive in Bezug auf Migration, denen linke Parteien keinen Raum geben dürfen, im Gegensatz zu legitimen Befürchtungen über zusätzliche Konkurrenz auf den Arbeits- und Wohnungsmärkten. Zu einem weiteren Teil geht es hier um ein Zeichen der Frustration mit einer Regierungspolitik, die es nunmehr seit Dekaden versäumt, die ökonomische Lage der sozial schwächeren Bevölkerungsgruppen zu verbessern. Und zu einem dritten Teil geht es um Sorgen in Bezug auf den Einfluss, den wirtschaftliche Globalisierung und eine supranational-liberale EU in Zukunft auf die eigene wirtschaftliche Lage ausüben können.
Ein politisches Projekt, das von den diesen Sorgen ausgeht und sie adressiert, bezeichne ich als »linkspopulär«. Es ist links, weil in seinem Kern die Reduktion der Armut der weniger privilegierten Bevölkerungsschichten und der sozio-ökonomischen Ungleichheit steht. Und ich nenne es populär, weil es kosmopolitischen Idealvorstellungen über ein intensiviertes Regieren jenseits des Nationalstaats und einer ungebremsten Fortsetzung von Globalisierungsprozessen mit Skepsis gegenüber steht, jedoch nicht in eine populistische Polemik degeneriert.
Ein essentieller Bestandteil eines linkspopulären Projekts ist eine klare und kompetente wirtschaftliche Strategie. Progressive Positionen sind in Deutschland regelmäßig daran gescheitert, dass die Wähler ihnen hier keine ausreichende Kompetenz zugeordnet haben, im Gegensatz etwa zu Fragen der Sozialpolitik. Progressive Politik benötigt zudem grundsätzlich immer ein realisierbares positives Projekt, ganz im Gegenteil zu den Rechtspopulisten, die sich auch auf Ablehnung, Ressentiments und Scheinlösungen beschränken können.
Aber auch die existierenden linken Positionen haben in Bezug auf eine kompetente wirtschaftspolitische Alternative ihre Schwächen, sei es bei der SPD, welche die neoliberal-exportistische Ausrichtung der bürgerlichen Parteien übernommen hat und auf ein alternatives wirtschaftliches Modell verzichtet, oder sei es bei der Linken, die von der Ausarbeitung einer kohärenten Wirtschaftsstrategie für den privaten Sektor weitgehend absieht und in der Öffentlichkeit nicht ohne Grund mit einer Programmatik assoziiert wird, die fast ausschließlich auf den öffentlichen Sektor setzt, mit Steuererhöhungen und Ausgabenprogrammen. Weitaus wichtiger als zusätzliche Sozialtransfers ist in Deutschland aber eine ausgewogenere Verteilungssituation bei den Markteinkommen.
Der zentrale Ansatzpunkt einer linkspopulären Wirtschaftsstrategie für Deutschlands Ökonomie ist die Überwindung von deren extremer Exportorientierung. Deutschland ist im Vergleich zu anderen Ländern viel zu stark vom Export abhängig. Der Export hat inzwischen einen Anteil von etwa fünfzig Prozent am Bruttoinlandsprodukt, eine Verfünffachung im Vergleich zu den Sechzigerjahren. Aktuell löst Deutschland mit seinem Leistungsbilanzüberschuss von über 300 Milliarden Dollar sogar das weit größere China als Land mit dem größten Exportüberschuss ab. Ein Exportüberschuss von fast neun Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts trägt ganz erheblich zu den globalen Ungleichgewichten bei, was von den globalen Wirtschaftsinstitutionen IWF, OECD und auch EZB und der Europäischen Kommission zu Recht regelmäßig kritisiert wird.
Länder mit dauerhaft hohen Überschüssen zwingen andere Länder in die Verschuldung, um ihre Importe zu finanzieren. Überschüsse bedeuten auch immer Defizite anderer Länder, solange wir nicht auf den Mond exportieren können. Das ist nicht tragisch, solange Überschussländer hin und wieder auch zu Defizitländern werden, so wie das früher bei Deutschland der Fall war. Länder, die aber dauerhaft hohe Überschüsse realisieren, destabilisieren damit langfristig die Wirtschaft ihrer Handelspartner. Die Brisanz solcher Entwicklungen wurde nicht zuletzt im US-Präsidentschaftswahlkampf deutlich, bei dem die Handelspolitik eines der Hauptthemen war, noch weit vor Immigrationsfragen.
Eine Reduktion der übermäßig großen Exportorientierung der deutschen Wirtschaft wäre allerdings nicht nur aus Gründen der globalen, sondern insbesondere auch aus Gründen der europäischen Solidarität geboten, denn Deutschland hat über viele Jahre einen Großteil seiner potentiellen Arbeitslosigkeit in die Eurozone exportiert. Da sich die Lohnstückkosten in Deutschland deutlich langsamer erhöht haben als in den anderen Ländern der Eurozone und letzteren das Ventil der Währungsabwertung nicht mehr zur Verfügung steht, haben deutsche Unternehmen auf Kosten anderer Unternehmen der Eurozone immer stärkere Marktpositionen errungen. Zugleich hat Deutschland zu wenig aus diesen Ländern importiert, aufgrund seiner schwachen Binnennachfrage. Diese Entwicklung hat zu einer nachhaltigen Deindustrialisierung im südlichen Europa beigetragen, zur Etablierung immer größerer Eurorettungsschirme und zu zunehmenden sozialen und politischen Spannungen in der EU.
Auch stellt sich die Frage, ob die aus den deutschen Leistungsbilanzüberschüssen notwendigerweise entstehende Anlage großer Geldmengen im Ausland sich wirklich rentiert, etwa angesichts der Verluste in der letzten Finanzkrise. Erik Klär und Kollegen haben in einer Studie für den Wirtschaftsdienst (»Investition in die Zukunft? Zur Entwicklung des deutschen Auslandsvermögens«) – aufbauend auf Statistiken der Deutschen Bundesbank – gezeigt, dass gut zwanzig Prozent der zwischen 2000 und 2012 aufgetürmten Überschüsse durch Bewertungsverluste und abgeschriebene Forderungen verloren gegangen sind, insgesamt rund 270 Milliarden Euro. Deutschland vergeudet hier einen großen Teil seiner Wirtschaftsleistung, der viel besser für den Konsum von Importgütern oder für inländische Investitionen in Infrastruktur und modernisierte Produktionsanlagen verwendet werden könnte.
Seit 1999 ist das deutsche Auslandsvermögen trotz dieser immensen Verluste nach einer Studie der Kreditanstalt für Wiederaufbau (»Die positive Seite unserer Vermögensbilanz« von einer quasi ausgeglichenen Bilanz zwischen Auslandsforderungen und Verbindlichkeiten zu einem Nettovermögen von fast 900 Milliarden Euro im Jahr 2013 gewachsen, immerhin rund ein Drittel der jährlichen Wirtschaftsleistung. Die oft artikulierte Vorstellung, man könne damit für eine alternde Gesellschaft vorsorgen, ist aber recht gewagt, setzt sie doch sowohl voraus, dass die Überschüsse sich in dann in Defizite umkehren (was in absehbarer Zeit nicht der Fall sein wird) und dass die Anlageländer dann in der Lage und willens sind, die Anlagen zu bedienen, was mit erheblichen wirtschaftlichen und politischen Risiken behaftet ist. So ist beispielsweise bei weitem nicht sicher, dass die südeuropäischen Wirtschaften die Kredite, die ihnen über die verschiedenen Euro-Rettungsschirme zur Verfügung gestellt werden, jemals wieder zurückzahlen können. Die KfW weist in ihrer Studie zudem darauf hin, dass die Auslandsvermögen sehr stark bei den oberen Einkommensgruppen konzentriert sind und auch aus diesem Grund nicht als Altersvorsorge der größeren Bevölkerungsteile geeignet sind.
Die sehr starke Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft – in Relation des Werts der exportieren Güter zum BIP doppelt so hoch wie in Frankreich und Großbritannien und fast viermal so hoch wie in Japan und den USA – stellt in einer neuen globalen Wirtschaftskrise ein großes Risiko dar, da sie die deutsche Wirtschaft stark von Entwicklungen auf den globalen Märkten abhängig macht. Damit kann die deutsche Wirtschaft in die Krise gezogen werden von Entwicklungen, die weder sie noch die deutsche Politik zu beeinflussen vermag. Eine stärker an der Binnennachfrage orientierte Ökonomie würde diese Verletzbarkeit deutlich reduzieren.
Zudem ist die extreme Exportorientierung der deutschen Wirtschaft auch für viele Aspekte der sozialen Verwerfungen verantwortlich, die viele Wähler in die Fänge der Rechtspopulisten treibt. Damit Deutschland im Export so erfolgreich sein kann, hat es bereits seit Mitte der Neunzigerjahre darauf verzichtet, die Löhne so stark zu erhöhen, wie es von der Produktivitätsentwicklung her eigentlich geboten wäre. Auch die Einsparungen in den sozialen Sicherungssystemen – wie den Hartz-Reformen, Rentenkürzungen usw. – wurden mit dem Kostendruck durch die Exportkonkurrenz begründet. Die Dominanz des Exportismus muss auch deshalb gebrochen werden, um wieder Löhne, Arbeitsbedingungen und Sozialleistungen durchsetzen zu können, die den Menschen ein Auskommen verschaffen.
Eine Reduktion der außenwirtschaftlichen Verletzlichkeit ist schließlich auch deshalb geboten, da die Zeichen auf den europäischen und globalen Exportmärkten eher auf Sturm stehen. Das Brexit-Referendum war nur der augenscheinlichste Indikator für diese Entwicklung. Auch für andere europäische Märkte erwarten die Außenhandelsexperten des Deutschen Industrie- und Handelstages zunehmenden Protektionismus. Aber auch in anderen Weltregionen ist nicht unbedingt mit einer sehr dynamischen Wirtschaftsentwicklung zu rechnen, etwa in der Türkei und Japan, oder in Schwellenländern wie Brasilien, Russland und Südafrika. Ganz besonders gravierend ist für das deutsche Wirtschaftsmodell jedoch die Gefahr einer Welle des globalen Protektionismus, wie sie von US-Präsident Trump und den zu erwartenden Gegenmaßnahmen anderer Regierungen ausgeht.
Als besonders tragisch könnte sich in diesem Zusammenhang noch die Herausbildung einer Autoexport-Monokultur in der deutschen Wirtschaft erweisen. Die starke Fokussierung auf einen Wirtschaftssektor ist immer riskant, insbesondere wenn er in einer Region konzentriert ist. Das Ruhrgebiet ist der lebende Beweis. Eine Analyse der Ausgaben für Forschung und Entwicklung von Deutschlands Unternehmen zeigt heute eine extreme Konzentration in den Bundesländern Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen, letzteres fast monostrukturell auf den VW-Konzern bezogen. Insgesamt entfallen fast ein Drittel aller Ausgaben für Forschung und Entwicklung auf den Fahrzeugbau. Wenn dieser Sektor in Schwierigkeiten gerät, kann die ganze Wirtschaft viel massiver negativ getroffen werden als im Vergleich mit einer ausbalancierten Wirtschaftsstruktur. Und gerade die klassische Automobilbranche steht vor gewaltigen Herausforderungen, etwa durch automatisiertes Fahren, Elektromobilität und die Sharing Economy. Und dabei sind die aktuellen Herausforderungen durch den Diesel-Skandal noch gar nicht berücksichtigt. Die deutsche Automobilbranche könnte sich recht bald als Dinosaurier entpuppen, so wie früher Kohleförderung und Stahlindustrie, und damit ganze Regionen in den nachhaltigen wirtschaftlichen Niedergang ziehen.
Notwendig ist also eine Stärkung der Binnennachfrage, durch höhere Löhne, vermehrte Investitionen und einen Ausbau der Beschäftigung in den binnenmarktorientierten Sektoren. Der unverzichtbare Umbau der deutschen Wirtschaft ist in der Übergangsphase möglicherweise schmerzhaft, da durch höhere Löhne Marktanteile und Arbeitsplätze im Exportsektor verloren gehen können. Es wäre aber besser, bereits jetzt vorausschauend mit der graduellen Reduktion der extremen Exportausrichtung der deutschen Wirtschaft zu beginnen, anstatt auf einen späteren völligen Zusammenbruch in einer globalen Wirtschaftskrise zu warten. Es geht auch nicht um einen drastischen Abbau des Exportsektors, sondern um eine graduelle Ausbalancierung der deutschen Wirtschaft, bei der andere Sektoren – etwa im Bereich des Handwerks, der Dienstleistungen und der Baubranche – deutlich gestärkt werden.
Es sollte jedoch nicht verschwiegen werden, dass ein binnennachfrageorientiertes Umsteuern bei der Wirtschaftsstruktur vorübergehend auch Verlierer haben kann. Neben den Kapitalbesitzern könnten das möglicherweise auch die Stammbelegschaften in den Flaggschiffen der Exportbranche sein, also etwa bei Volkswagen, Daimler und BMW. Die Gesamtbetriebsratsvorsitzenden der deutschen Automobilindustrie haben 2017 in einem gemeinsamen Papier darauf hingewiesen, dass die Erfolge der Industrie vor allem auf den Qualitätsprodukten beruhen, nicht auf niedrigen Löhnen. Falls das so stimmt, können sie ja dem hier geforderten höheren Lohnniveau sehr gelassen entgegen sehen.
In jenen Branchen, bei denen die Entwicklung von Löhnen und Preisen hingegen sehr stark auf die Wettbewerbsfähigkeit durchschlägt, dürfte zumindest innerhalb der Eurozone der nach wie vor bestehende Abstand bei den Lohnstückkosten zugunsten Deutschlands für einen Puffer sorgen, der in den ersten Jahren Arbeitsplatzverluste verhindert, bis dann die Belebung binnennachfrageorientierter Branchen diese potentiellen Verluste kompensieren kann.
In jedem Fall sollten die Gewinner einer solchen Reorientierung – neben den Armen vor allem Arbeitnehmer und Unternehmer in binnennachfrageorientierten Branchen und Arbeitnehmer im öffentlichen Sektor – weitaus zahlreicher sein als die Verlierer. Zudem werden die deutschen Exportunternehmen oftmals in der Lage sein, ein steigendes Lohnniveau durch eine steigende Produktivität zumindest teilweise zu kompensieren. Steigende Löhne dienen hier als »Produktivitätspeitsche«, sie werden die Investitionen der Unternehmen wieder erheblich anspornen. Die Strategie der Lohnzurückhaltung schadet ja langfristig der Produktivitätsentwicklung, wie der niederländische Ökonom ▸Alfred Kleinknecht dokumentiert hat.
Die Investitionstätigkeit der deutschen Unternehmen fällt aktuell sowohl im historischen als auch im internationalen Vergleich ▸sehr gering aus, sie ist in Relation zur Wirtschaftsleistung seit Jahrzehnten rückläufig (wenn auch noch besser als in den meisten anderen Eurozonenländern). Die deutschen Unternehmen ruhen sich derzeit auf den monetär günstigen Rahmenbedingungen der Eurozone – schwacher Außenwert, Wegfall der Abwertungsmöglichkeit für innereuropäische Konkurrenten – aus, was langfristig zu einem bösen Erwachen führen könnte. Und wenn deutsche Unternehmen derzeit investieren, liegt der Fokus viel zu oft nicht auf wissensbasierten, produktivitätserhöhenden Investitionen, sondern in Immobilien oder Unternehmensanteilen, beides kein Ausweis einer dynamischen Wirtschaftsentwicklung. Hier könnte eine binnennachfrageorientierte Balancierung der deutschen Wirtschaft also stark stimulierend wirken, zusätzlich zu ihren günstigen Auswirkungen auf das Lohnniveau und ihrer verbesserten Stabilität in zukünftigen weltwirtschaftlichen Krisen.
Es handelt sich bei diesem Text um einen leicht überarbeiteten und ergänzten Ausschnitt aus ▸»Linkspopulär: Vorwärts handeln statt rückwärts denken«, Westend Verlag: Frankfurt am Main 2018, 240 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-86489-216-5.
Andreas Nölke ist seit 2007 Professor für Politikwissenschaft an der Goethe Universität in Frankfurt. Zuvor war er in der Entwicklungszusammenarbeit sowie an den Universitäten von Konstanz, Leipzig, Amsterdam und Utrecht tätig.