Sachverständigenrat: Vier »Staatsfeinde« am Werk
20. November 2017 | Michael Wendl
Das neue Jahresgutachten des Sachverständigenrats: Wie die Mehrheit versucht, eine Politik knapper Kassen und damit eine Beschränkung staatlicher Handlungsmöglichkeiten durchzusetzen.
Sicher ist die Berichterstattung der Medien über die jährliche Präsentation des Jahresgutachtens des Sachverständigenrates (SVR) skandalös, einmal weil die große Mehrheit der Medien nicht darüber informiert, dass es regelmäßig aus dem Kreis der Sachverständigen selbst eine umfangreiche »abweichende Meinung«, also ein Minderheitsgutachten gibt. Zu diesem Skandal gehört, dass die wenigen Medien, die eine abweichende Meinung registrieren, nicht sagen, worin die Differenzen zwischen der Ratsmehrheit und der Kritik des in zentralen Fragen abweichenden Sachverständigen – seit 13 Jahren ist das Peter Bofinger – bestehen.
Die meisten JournalistInnen sind auch nicht in der Lage, diese Unterschiede und Kontroversen zu verstehen. Andere haben kein Interesse daran, eine keynesianisch begründete Sicht auf ökonomische Zusammenhänge und Prozesse bekannt zu machen. Sie halten diese Sicht schon deshalb für kurios, weil sie makroökonomische Zusammenhänge nicht verstehen. Als wirtschaftlicher Sachverstand gilt in der deutschen Politik und in den deutschen Medien der Tunnelblick des einzelnen Unternehmens auf den entsprechenden Markt.
Leider dominiert in Deutschland eine Volkswirtschaftslehre, die diesen mikroökonomisch verengten Blick ohne viel Umschweifen auf die Gesamtwirtschaft überträgt. In den Modellen der sogenannten neoklassischen Makroökonomie wird davon ausgegangen, dass die mikroökonomischen Akteure über nach rationalen Erwartungen handelnde repräsentative AgentInnen die Gesamtwirtschaft steuern. Faktisch bleibt die Makroökonomie damit Mikroökonomie. Der Harvard-Ökonom Dani Rodrik bezeichnet jüngst im Guardian Neoliberalismus – immer mehr Markt und weniger Staat – als »bad economics«. Die deutschen ÖkonomInnen sind von derartigen Einsichten meilenweit entfernt und isolieren sich zunehmend international.
Der mikroökonomische Blick
Diese Konzentration auf den mikroökonomischen Blick kann in dem Jahresgutachten 2017/18 (und den vorhergegangenen Gutachten) sehr klar erkannt werden. Nehmen wir zwei ganz entscheidende Felder der Wirtschaftspolitik: die Fiskalpolitik (Einnahmen und Ausgaben des Staates) und die Geldpolitik, hier die durch niedrige Zinsen expansive Geldpolitik der EZB.
Beginnen wir mit der Fiskalpolitik. Hier konstatiert die Mehrheitsfraktion des Rats, dass die Haushaltsüberschüsse bei den Steuereinnahmen eine »zunehmende Belastung durch Steuern und Abgaben« anzeigen. Daraus könnte der Schluss gezogen werden, dass mit diesen Haushaltsüberschüssen öffentliche Investitionen zur Sanierung der maroden staatlichen Infrastruktur finanziert werden sollen, eine Entscheidung, die auch den Unternehmen zugutekommt, sofern diese in gesamtwirtschaftlichen Größen denken können. Die Mehrheitsfraktion jedoch schlägt vor, die Privathaushalte und Unternehmen entsprechend zu entlasten. Einmal soll der aktuelle vieldiskutierte Solidaritätszuschlag »allmählich« abgeschafft werden, zum anderen sollen die Mehreinnahmen aus der sogenannten »Kalten Progression« den BezieherInnen mittlerer Einkommen zurückgegeben werden. Dabei wird unterschlagen, dass die Abflachung der Progression im Verlauf des Einkommenssteuertarifs zugleich die hohen Einkommen entlastet, weil deren Einkommen ebenfalls diese abgeflachte Stufe des Tarifs durchlaufen. Für die Unternehmenssteuern verlangt die 4er-Gruppe eine Zinsbereinigung des Grundkapitals, also eine Verkürzung des zu versteuernden Eigenkapitals der Unternehmen. Einer Vermögenssteuer wird ebenso wie der Abgeltungssteuer eine klare Absage erteilt. Innerhalb der Sozialversicherung soll der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung gesenkt werden.
Unter dem Strich bedeutet das eine spürbare Verringerung der Einnahmen von Staat und Sozialversicherung. Höhere öffentliche Investitionen sollen dann durch Haushaltskürzungen an anderer Stelle finanziert werden. Das wird als positiv zu wertende »Konsolidierung der öffentlichen Haushalte« bezeichnet. Dieser Versuch kann als Perspektive des treusorgenden Haushaltsvorstands (die »schwäbische Hausfrau«) kritisiert werden, aber eine solche Bewertung greift zu kurz. Hinter der Senkung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen steht strategisches Denken. Mit knappen Kassen verringert sich die wirtschafts- und sozialpolitische Handlungsfähigkeit des Staates. Peter Bofinger weist daher kritisch darauf hin, dass die von der Mehrheit geforderte »Neujustierung der Wirtschaftspolitik« darauf abzielt, die »Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit des Staates durch eine Beschränkung und Reduzierung seiner Ressourcen zu schwächen«.
Die Strategie: den Staat aushungern
Von wirtschaftslibertären Ideologen wie James Buchanan wurde diese Strategie als »Starving the Beast«, auf Deutsch »Aushungern der Bestie Staat«, in die Debatte gebracht. Eine zentrale Rolle spielte diese Kampfformel unter Ronald Reagan in den 1980er Jahren. So plakativ wird das in Deutschland nicht formuliert, aber es ist eine aus mikroökonomischer Sicht begründete Feindschaft gegenüber dem Sozialstaat, der Steuern und Sozialbeiträge eintreibt.
In diesem Zusammenhang passt es, dass den Eurostaaten in Zukunft eine weitere Kreditaufnahme und Umschuldungen erschwert oder zumindest erheblich verteuert werden sollen. Ein Jahr zuvor hatte die Mehrheit des Rats eine Insolvenzordnung für verschuldete Euroländer gefordert, eine Maßnahme, die wegen der hohen Risikoaufschläge auf die Anleihezinsen eine weitere Kreditaufnahme faktisch unmöglich macht. Dazu gehört, dass der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) ein »Mandat zur Krisenprävention« erhalten soll um die Fiskalpolitik der Mitgliedsstaaten zu überwachen. Unter Krise wird also eine weitere öffentliche Kreditaufnahme verstanden. Unter Krisenprävention der Abbau von Haushaltsdefiziten und die Unterordnung der Euroländer unter die strafende Hand des ESM. Zur Krisenprävention gehören damit auch steigende Arbeitslosigkeit und zunehmende Armut. Zu dieser Sicht passt, dass die Mehrheit des Rats die aktuelle Verschärfung der Entsenderichtlinie und damit die Einschränkung grenzüberschreitenden Lohn- und Sozialdumpings als »Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit« und damit als »Markthemmnis« brandmarkt.
Schreckgespenst EZB
Als zweiter Feind gilt aus der haushälterischen Sicht der kleinen SparerInnen einerseits und der volkswirtschaftlichen Ideologie des Sparens andererseits die Europäische Zentralbank, genauer ihre expansive Geldpolitik, die mit den Käufen von Staats- und Unternehmensanleihen (»Quantitative Easing«) und Zinsen um die Null die Konjunktur zu stabilisieren versucht. Damit erlaubt sie es den hoch verschuldeten Euro-Ländern, sich mit niedrigen Kreditzinsen weiter zu finanzieren. Diese Geldpolitik der EZB war, für sich genommen, erfolgreich. Die Inflation stieg teilweise auf 1,5 Prozent, eine in der Folge der europäischen Austeritätspolitik drohende Deflation wurde vermieden. Die Geldpolitik hätte noch größere Wirkungen erzielt, wenn sie durch eine expansivere Fiskalpolitik unterstützt worden wäre, was Schäuble und seine Claqueure in der Eurogruppe verhindert haben.
Aus Sicht der Sachverständigen war diese Geldpolitik nur für eine kurze Zeit, unmittelbar nach der Finanzmarktkrise 2008/09 angemessen. Danach hätte eine »Strategie der Normalisierung der Geldpolitik« eingeleitet werden müssen. Diese Normalisierung klagt die 4er-Gruppe jetzt wieder ein. Kurios an dieser Klage ist, dass die Normalisierung der Geldpolitik im Euroraum zunächst nur kurz 2008/09 und danach ab 2012 eingesetzt hatte. Die geldpolitische Strategie der EZB ab 2012 ist keine Abweichung von der Normalität der Geldpolitik, sondern markiert einen verspäteten Übergang der EZB zu einer Geldpolitik, die einmal für eine Währungsreform generell notwendig ist, zum anderen der Krisensituation der meisten Mitgliedsländern Rechnung trägt.
Was die Mehrheit des Rats als »normale« Geldpolitik versteht, ist das alte geldpolitische Modell der deutschen Bundesbank. Das war eine monetaristische Geldpolitik, die versucht hat, durch (zu) hohe Zinsen und starre Regeln der Geldversorgung das Wachstum der Geldmenge zu begrenzen. Durch die Bewegungen des Zinsniveaus bei insgesamt knappem Geld sollten die vorhandenen Ersparnisse mit den darauffolgenden Investitionen vermittelt werden. Dieser Zusammenhang war nur ideologisch, weil Investitionen durch Kredite finanziert werden, die auf Ersparnisse nicht angewiesen sind, weil sie aus dem Nichts geschöpft werden können.
Die deutsche Geldpolitik ist keineswegs »normal«
Diese vermeintlich »normale« Geldpolitik war schon in den 1970er Jahren exklusiv deutsch und war auf die Situation eines strikt an Exportüberschüssen orientierten Landes zugeschnitten. Deutschland wollte Preisstabilität und damit eine international unterdurchschnittliche Inflation aus zwei Gründen: Einmal zur Förderung des Exports, zweitens zu Sicherung weiterer Geldvermögensbildung. Es war die passende Geldpolitik für eine Strategie des Handelsmerkantilismus. Daher war es bemerkenswert irrational, dieses Bundesbank-Modell zum Muster einer europäischen Geldpolitik zu machen, nur weil Deutschland das unbedingt wollte.
Unter den Zwängen der Krise hat die EZB dieses Korsett des deutschen Modells abgestreift und konzentriert sich nicht mehr auf das Knapphalten der Geldmenge, sondern auf die Steuerung der Inflation und auf den Erhalt der Währungsunion. Eine »deutsche« Geldpolitik hätte den Euro spätestens 2013 zerbrechen lassen. Geldpolitisch steuert damit die EZB den gleichen Kurs wie die US-Federal Reserve, die Bank of Japan, die Bank of England, die Schweizer Nationalbank und andere Notenbanken. Dass die US-Fed aktuell eine sehr vorsichtige Straffung ihrer Geldpolitik versucht, liegt daran, dass das Wachstum in den USA deutlich höher ist als in der Eurozone und das Inflationsziel der Notenbank erreicht ist.
Provinzielle Wirklichkeitsresistenz
Dass die Mehrheit des SVR die aktuelle, den Bedingungen allgemein niedrigen Wachstums angepasste Geldpolitik als anormal versteht, ist nur möglich in einem Land, in dem der ökonomische Diskurs auffallend provinziell und rückwärtsgewandt ist. Ein Niveau, an dessen weiterer Verflachung dieser Rat maßgeblich beteiligt war. In den vorhergehenden Jahrzehnten waren die liberalen ÖkonomInnen in Deutschland noch daran interessiert, dass ihre Zunft auf das »amerikanische Niveau« der Wirtschaftswissenschaft gehoben wird. Damit war die Fortschreibung der Modelle im Rahmen der »neuen« neoklassischen Makroökonomie gemeint.
Seit der Börsenkrise 2002/03 hat sich das geändert. Die Geldpolitik wird nicht mehr aus dem akademischen Elfenbeinturm, sondern von ökonomisch gebildeten PraktikerInnen in den großen Notenbanken bestimmt. Diese haben ein Interesse daran, große Krisen und Depressionen zu vermeiden oder mindestens abzuschwächen. Ihr Job lässt sich nicht mit ideologietriefenden Predigten machen. Dadurch wird die weitgehende Wirklichkeitsferne der ordoliberalen oder monetaristischen Modelle zu einem großen Teil überwunden. Dass die politisch-ökonomische Wirklichkeit sich anders entwickelt als es die Modelle erlauben, die sie erklären sollen, erzürnt die liberalen und marktradikalen ÖkonomInnen.
Mit den politischen Interventionen von Staat und Zentralbank werden die tendenziell zerstörerischen Wirkungen der Märkte gebremst und verändert. Damit können die Märkte ihre disziplinierende Rolle gegenüber der Politik nicht mehr ungefiltert durchsetzen. Faktisch sind diese MarktfundamentalistInnen alle Staatsfeinde. Das hindert den Staat nicht, sie als unkündbare Beamte zu beschäftigen und ihre faktisch nicht brauchbaren Gutachten zu bezahlen. Die EZB wird ihren Kurs wegen dieser Kritik nicht im Geringsten ändern. Sie weiß, dass sie es besser weiß, als die fünf (bzw. vier) Weisen. Zum Trost hat die Mehrheit des Rats eine neue (und zugleich alte) Freundschaft reaktiviert. Die FDP könnte wieder in der Regierung sitzen.
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Michael Wendl ist Soziologe, Mitglied der deutschen Keynes-Gesellschaft, er hat von 1980 bis 2016 für die Gewerkschaften ÖTV und ver.di gearbeitet.