Interview
Sarah Schulz: »Die Extremismustheorie kennt keinen Marktextremismus«
8. Juli 2021 | Patrick Schreiner
Sarah Schulz über die marktliberale Schlagseite der Extremismustheorie. Schulz ist Politikwissenschaftlerin und Koordinatorin des Forschungsverbundes Sozialrecht und Sozialpolitik an der Universität Kassel.
Was ist Extremismustheorie?
Die Extremismustheorie befasst sich mit politischen Positionen und gliedert sie in ein grobes Schema. Dabei hat sie zunächst mal eine alltagsverständliche Dimension, auf der Behörden und auch die Wissenschaft aufbauen können. Dieses Alltagsverständnis ist relativ eingängig: Man hat eine politische Mitte und möchte nicht zu sehr ins Extreme abgleiten. Die Mitte ist positiv bewertet. In der Politikwissenschaft gibt es einen Ansatz, der sich normative Extremismustheorie nennt. Er kann genau da anknüpfen. Er teilt die Gesellschaft in eine Mitte und extreme Ränder ein: Linksextrem und rechtsextrem, und die seien dann antidemokratisch. Sie bekämpften also die Mitte – den demokratischen Verfassungsstaat. Dieser wiederum ist als Gegenpol zum Extremismus definiert. Das Ganze hat eine Entsprechung bei den Sicherheitsbehörden, die auch in etwa so die Gesellschaft betrachten. Hier wäre insbesondere der Verfassungsschutz zu nennen.
Sie sehen das kritisch. Weshalb?
Das hat verschiedene Gründe. Zuerst ist festzuhalten, dass Politik und Gesellschaft deutlich komplexer sind, als es die Extremismustheorie unterstellt. Ihr liegt ein spezifisches, am Status quo orientiertes Verständnis von Demokratie zu Grunde. Extremist*innen, seien es Nazis, Anarchist*innen oder radikale Feminist*innen, unterstellt sie ein Problem mit dem Status quo und will sie daher gleichermaßen bekämpfen. Legt man ein anderes Demokratieverständnis zu Grunde, ist diese Darstellung ziemlich seltsam. Die Extremismustheorie vermittelt eine verkürzte Vorstellung von Gesellschaft, Politik und der Funktionsweise demokratischer Auseinandersetzung. Hinzu kommt, dass sie von den eigentlichen Inhalten wegführt. Demokratie heißt politisch aushandeln, wie man gesellschaftlich zusammenleben will, ob es nun um die Wohnungsfrage geht oder Bildungspolitik oder welches Politikfeld auch immer. Die Extremismustheorie tut so, als gäbe es einen vermeintlich universellen, immer gegebenen, objektiven Wert, den sie als »demokratischen Verfassungsstaat« bezeichnet. Demokratie ist aber nicht vom Himmel gefallen, sondern ein erkämpftes politisches System. Vor allem war die Forderung nach Demokratie und rechtsstaatlicher Transparenz eine Forderung gegen die willkürliche staatliche Exekutive.
Wenn man den Begriff »Extremismus« hört, denkt man üblicherweise an links und rechts. Beispiele haben Sie genannt. Nun haben Sie gerade auch von radikalen Feministinnen gesprochen. Gibt es in der Extremismustheorie noch weitere Extreme, und gibt es insbesondere eine Vorstellung einer extremen Marktgläubigkeit? Kennt die Extremismustheorie eine Art Marktextremismus?
Nein, »Marktextremismus« taucht nicht auf. Aber das meinte ich eigentlich: Gesellschaftliche Kämpfe und umkämpfte Politikfelder betrachtet die Extremismustheorie nicht. Es ist eine Idee, die den Status quo schützt. So wie die Gesellschaft ökonomisch und sozial eingerichtet ist, so sei es gut. Vor diesem Hintergrund stehen kapitalismuskritische Positionen immer ein Stück weit im Verdacht, extremistisch zu sein. Für Weltanschauungen, die meinen, der »Markt« würde alles von alleine regeln, gilt das nicht. Die befinden sich gar nicht im Koordinatensystem der Extremismustheorie.
Thematisiert die wissenschaftliche Extremismustheorie die Gleichheit oder Ungleichheit der Menschen?
Vor allem in den Definitionen des Extremismus kommt Gleichheit vor: Dem Rechtsextremismus rechnet man zu, dass er die Gleichheit der Menschen ablehnt, dem Linksextremismus, dass er die Gleichheit der Menschen zu weit auslegt und alles nivellieren will. Als Politikwissenschaftlerin muss ich da schmunzeln. Schließlich ist das ein klassisch konservatives Argument gegen sozialpolitische Forderungen. Vielleicht kommt dort das »Marktliberale« durch, nach dem Sie fragten. Die Extremismustheorie argumentiert (vor allem in der behördlichen Ausprägung oder in den Feuilletons), dass zur Mitte eben auch das aktuelle Wirtschaftssystem gehört oder dass zumindest antikapitalistische Positionen extremistisch seien. Dabei ist auch die Art des Wirtschaftens mit allem, was dazu gehört – Vermögenssteuer, Grundeinkommen, Mietendeckel, Enteignungen, Housing first, öffentliche Gesundheitsversorgung bis hin zum Eigentum an Produktionsmitteln Teil des gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses, eben Gegenstand politischer Konflikte.
Von Sarah Schulz und Maximilian Fuhrmann erschien vor Kurzem das Buch »Strammstehen vor der Demokratie. Extremismuskonzept und Staatsschutz in der Bundesrepublik«. ▸http://www.schmetterling-verlag.de/page-5_isbn-3-89657-175-3.htm
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.