Soziale Demokratie: Alles andere als DDR
27. Juni 2019 | Marius Müller-Hennig
Zwischen Staat und Markt klafft in der wirtschaftspolitischen Debatte eine unerträgliche Leerstelle. Das war nicht immer so.
Die erhitzte Debatte um Kevin Kühnerts »Sozialismus-Thesen« wurde bei ▸»maischberger. die woche« am 12. Juni noch einmal aufgerufen. Zum Glück! Ãœberraschenderweise ließ sich Peer Steinbrück dort ein bemerkenswertes Eingeständnis entlocken: Der größte Fehler sei wahrscheinlich gewesen, Anfang der Nuller Jahre einem Zeitgeist der Deregulierung zu unterliegen. »Der Markt wird alles richten, wir brauchen nur eine Befreiung von allen Fesseln (…), ich gebe zu, auch ich selber habe mich diesem Zeitgeist sehr stark ergeben«, sagte Steinbrück. »Heute stellen wir fest, der Markt richtet nicht alles. Wir wollen auch nicht, dass alle Lebens- und Arbeitsbereiche einem exzessiven Renditedenken unterworfen werden.« Kühnert habe mit seiner Kritik einen Nerv getroffen.
Natürlich folgte nur wenig später noch das unvermeidliche »Aber« Steinbrücks, der damit nach der erfreulichen Selbstkritik wieder die ideologischen Scheuklappen anlegte: »Er hat nur Antworten gegeben, die in alten Lehrbüchern mit Sütterlinschrift stehen. Er hat eine Art Voodoo-Sozialismus entwickelt.«
Soll wohl heißen: Kühnert hat zwar Recht und das kapitalistische Renditedenken muss zurückgedreht werden, aber es bringt nichts, dabei in die Vergangenheit zu schauen. Dem ersten Punkt kann man nur zustimmen. Dem zweiten nicht. Man sollte unbedingt zurückschauen. Erfahrungen aus dem ehemaligen Jugoslawien, dem Südamerika der Jahrtausendwende und – Überraschung – sogar solche aus der Nachkriegs-BRD beinhalten wertvolle Lehren, will man sich ernsthaft mit den Chancen und Risiken einer stärkeren Demokratisierung der Wirtschaft auseinandersetzen. Und die macht den Kern der Kühnertschen Thesen aus. Gegenüber einer solchen Auseinandersetzung zeigt sich der wirtschaftspolitische und wirtschaftswissenschaftliche Mainstream leider immer noch weitgehend ignorant.
Wer heute an Jugoslawien denkt, denkt vor allem an den blutigen Zerfall. Dabei war der Selbstverwaltungssozialismus Jugoslawiens bis in die 1980er Jahre hinein auch für manche Sozialdemokraten und Sozialisten in Westeuropa eine spannende Alternative zum Staatssozialismus sowjetischer Prägung. Das Selbstverwaltungsprinzip sollte dort in bewusster Abgrenzung zu Stalin seit den 1950er Jahren auf alle gesellschaftlichen Bereiche angewendet werden, in gewisser Weise also eine radikale Demokratisierung von Gesellschaft und Wirtschaft erfolgen. Es war in dieser Hinsicht vielleicht das interessanteste und ambitionierteste politische Experiment des vergangenen Jahrhunderts. Es gilt allerdings in vielerlei Hinsicht als gescheitert. Dies liegt auch daran, dass es sich eben nicht in einem demokratischen politischen Rahmen evolutionär entwickelte, sondern unter einem autokratischen Einparteiensystem von der politischen Führung vorgegeben wurde.
Dennoch wurden Entscheidungsbefugnisse in den Betrieben de fakto demokratisiert. Aus diesen Erfahrungen in der Wirtschaft kann man konkrete Schritte ableiten für eine demokratischere, gerechtere und solidarischere Wirtschaft in einzelnen Betrieben. Allein – dieses Lernen findet nicht statt.
Mit dem blutigen Zerfall Jugoslawiens gerieten die Lehren dieses Experiments in Vergessenheit. Die Debatte, die sich im Anschluss an Kühnerts Thesen entwickelt hat, ist insofern nicht überraschend: Es geht nicht um die Lehren demokratischer sozialistischer Wirtschaftsweise wie in Jugoslawien. Es geht um die alarmistische Warnung vor dem Ergebnis: Das abschreckende Beispiel steht im Fokus und das ist dann automatisch gleich die DDR.
Doch man muss nicht einmal ins 20. Jahrhundert zurückschauen: Beispiele aus Argentinien und den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens zeigen, dass Selbstverwaltung auch heutzutage nicht nur für Museen und Geschichtsvorlesungen taugt. Im Argentinien der Jahrtausendwende übernahmen Arbeiterinnen und Arbeiter die Leitung einer Reihe von in die Krise geratenen Betrieben, zum Teil mit nachhaltigem Erfolg. Während hierzulande die wirtschaftliche und politische Kreativität in vielen Fällen nicht über den unfruchtbaren Dualismus zwischen »geordneter Insolvenz« und staatlichem »life-support« hinausreicht, haben tausende Arbeitnehmer in Argentinien durch Eigenengagement und einen tauglichen gesetzlichen Rahmen ihre Betriebe vor der Pleite gerettet. Und auch in den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien kämpften Arbeiter in den vergangenen Jahren erfolgreich gegen die Insolvenz ihrer in die Krise geratenen Betriebe.
Neben den wirtschaftlichen Potentialen, die selbstverwaltete Betriebe also durchaus noch immer haben, zeigen die Beispiele auch deutlich: Arbeit und die Identifikation mit dem eigenen Betrieb und Produkt gehen über ein kühles Erwerbskalkül hinaus. Arbeit und Zusammenarbeit stiften konkrete Identität und Gemeinschaft, eine Dimension, für die in der kalten marktwirtschaftlichen Analyse normalerweise kein Platz ist. Gerade Sozialdemokraten würde es gut anstehen, auf die Bedeutung der Identifikation mit dem eigenen Betrieb und dem Ergebnis der eigenen Arbeit hinzuweisen.
Die Reaktivierung von insolventen Betrieben durch die eigene Arbeiterschaft ist ein starkes Beispiel für das Potential einer demokratischeren Form des Wirtschaftens. Dass dieser offensichtliche Bezug in der deutschen Debatte zu den Sozialismus-Thesen von Kevin Kühnert nicht auftaucht, spricht Bände über die Scheuklappen des wirtschaftspolitischen Mainstreams in Deutschland. Der wirtschaftspolitische Diskurs weist zwischen Staat und Markt eine oftmals unerträgliche Leerstelle auf. Dabei bedarf es nicht allzu großer Fantasie, um sich ähnliche Situationen in Deutschland vorzustellen - mit Firmen, die die Zeichen der Zeit an den Märkten übersehen haben oder in krimineller Art und Weise zugrunde gewirtschaftet werden.
Kevin Kühnert wurde geraten, dass Godesberger Programm statt Karl Marx zu lesen. Das ist ebenfalls typisch für die deutsche Diskussion zur Sozialdemokratie: Alles vor dem Godesberger Programm war kommunistisches Teufelszeug, so die indirekte Botschaft. Leider trifft sie auch in sozialdemokratischen Kreisen mancherorts noch immer auf Resonanz. Aber wie sah denn sozialdemokratische wirtschaftspolitische Programmatik vor dem Godesberger Programm aus? Eine Lektüre des vorangehenden Heidelberger Programms ist hochspannend. Besonders relevant sind die Forderungen für das Thema Demokratisierung der Wirtschaft: Die »Förderung von nicht auf Erzielung eines Profits gerichteten Genossenschaften und gemeinnützigen Unternehmungen sowie des gemeinnützigen Wohnungsbaues, öffentlich-rechtliche Gestaltung des Mietrechts, Bekämpfung des Bauwuchers«. Beide Forderungen sind hochaktuell.
In den ersten Nachkriegsjahrzehnten wurde in der BRD eine entsprechende Wirtschaftspolitik erfolgreich betrieben. Genossenschaften und andere Formen der Gemeinwirtschaft waren ein fester und erfolgreicher Bestandteil der deutschen Wirtschaft. In Hamburg gab es eine eigene Akademie für Gemeinwirtschaft. Gleichwohl geriet die Gemeinwirtschaft in Deutschland in eine Krise, die in den Skandalen um die »Neue Heimat« und die »co op AG« in den 1980er Jahren gipfelte. Spätestens von diesem Zeitpunkt an rückten Formen des nicht primär profitorientierten und demokratischeren Wirtschaftens auf der wirtschaftspolitischen Agenda ins Abseits. Anstatt die Lehren aus den Skandalen zu ziehen und die Gemeinwirtschaft weiterzuentwickeln, schrieb man diese Wirtschaftsformen politisch lieber ab. Stattdessen öffnete man dem aufkommenden neoliberalen Zeitgeist Tür und Tor, indem man immer mehr zuvor geschützte Sektoren deregulierte und für private Anbieter öffnete. Peer Steinbrück und die Nuller Jahre lassen schuldbewusst grüßen.
Welche Lehren lassen sich aus den sehr unterschiedlichen Erfahrungen mit Selbstverwaltungssozialismus, reaktivierten Unternehmen und der deutschen Geschichte der Gemeinwirtschaft ziehen? Erstens: Als dogmatische Blaupause und Ideologie ist die Idee eines autoritär verordneten systemweiten Selbstverwaltungssozialismus gescheitert. Gelebte Selbstverwaltung und demokratisches Wirtschaften lassen sich nicht »von oben« verordnen. Zweitens: Selbstverwaltung und genossenschaftliches Wirtschaften sollte man viel stärker fördern. Denn als alternative wirtschaftliche Praxis haben solche Betriebe ihr großes Potential bewiesen. Sie müssten im Wettbewerb mit Privat- und Staatsbetrieben gefördert, mit praxisorientierter wissenschaftlicher Forschung konstruktiv begleitet und in gesellschaftlich wichtigen Bereichen durch die Eindämmung von kaltem Preiswettbewerb und vor Marktkonzentration geschützt werden.
Man sollte keinesfalls so tun, als ob die Idee von mehr Wirtschaftsdemokratie und einer stärker am Gemeinwohl als am Profit orientierten Wirtschaftsstruktur ein Wolkenkuckucksheim oder DDR-Verklärung wäre. In einer funktionierenden Demokratie muss demokratischeres Wirtschaften machbar sein. Die in den letzten Jahren mehrfach konstatierte Renaissance der Genossenschaften in Deutschland macht Hoffnung, dass hier die Praxis dem wirtschaftspolitischen Diskurs bereits voraus sein könnte.
Der Artikel erschien zuerst im ▸IPG Journal der Friedrich-Ebert-Stiftung. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.
Marius Müller-Hennig ist in der Internationalen Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung zuständig für Außen- und Sicherheitspolitik. Zuvor leitete er das FES-Büro in Bosnien-Herzegowina.