Spanien: Die Austeritätsfalle vertieft die soziale und wirtschaftliche Krise
11. September 2012 | Ricard Bellera i Kirchhoff, Patrick Schreiner
Spanien ist eines der Länder, die im Mittelpunkt der aktuellen Finanzkrise stehen. Ähnlich wie in Großbritannien, Portugal oder Griechenland versucht die Regierung auch dort, durch das Kürzen öffentlicher Ausgaben die Haushaltsdefizite abzubauen – und erreicht, gleichfalls wie in anderen Staaten, genau das Gegenteil. Verschärft wird die Situation durch eine veritable Bankenkrise. Spanien ist mittlerweile tief in einen Teufelskreis aus Ausgabenkürzungen, steigender Staatsverschuldung und wirtschaftlicher Rezession gerutscht. Der folgende Artikel schildert die Situation in Spanien in drei Schritten: Er beschreibt erstens die Entwicklungen vor der Krise, geht zweitens auf die Krise selbst ein und beschreibt drittens Reaktionen und Forderungen der spanischen Gewerkschaften.
Das spanische Wirtschaftswunder vor der Krise
In den Jahren 1994 bis 2007 erlebte Spanien ein starkes Wirtschaftswachstum. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wuchs inflationsbereinigt um ganze 58 Prozent, es wurden 8,1 Millionen Arbeitsplätze geschaffen, die Bevölkerung nahm um 7,8 Millionen Menschen zu. Das Land reduzierte seine Schuldenstandsquote von 62 Prozent des Bruttoinlandprodukts im Jahr 1999 auf 36 Prozent im Jahr 2007 und hätte, wie das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) aufzeigt, nur in den Jahren 1999 und 2001 leicht gegen den Fiskalpakt verstoßen. Ein Musterland, glaubt man den nackten Zahlen.
Dieser lange Boom verdeckte aber auch Strukturschwächen der spanischen Wirtschaft, die seitens der Regierung kaum angegangen wurden. Heute - im Rahmen der aktuellen Krise - kommen diese Schwächen zum Tragen: Es kam in den vergangenen Jahren zu einem enormen Anstieg der privaten Verschuldung und zu einem drastischen Verlust an Wettbewerbsfähigkeit, was heute gravierende Konsequenzen hat. Dies gilt umso mehr, als Spanien mit seiner Mitgliedschaft in der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion die Möglichkeit verlor, wie in der Vergangenheit durch das Abwerten seiner früheren Währung "Peseta" einem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit unmittelbar entgegenzuwirken.
Hintergrund des enormen Anstiegs zunächst der privaten Verschuldung war ein kreditfinanzierter Immobilienboom. Die Aussicht auf den Beitritt zum Euro ließ den Zinssatz im Interbankengeschäft (Mibor) schon in den 1990er Jahren von 14,5 Prozent im Dezember 1992 auf 2,7 Prozent im Mai 1999 sinken. Mit der Wirtschafts- und Währungsunion galt im Euroraum für alle Länder ein einheitlicher Leitzins der Europäischen Zentralbank (EZB), er lag auf einem für Spanien äußerst niedrigen Niveau. Das damit im Grunde seit den frühen 1990er Jahren sehr niedrige Zinsniveau hatte Konsequenzen: Die dadurch möglichen billigen Kredite führten zusammen mit Steuervorteilen für den Erwerb von Immobilien dazu, dass viele spanische Haushalte Wohneigentum erwarben. Es entstand ein Immobilienboom, von dessen Profiten Immobilienfonds und Hedgefonds, aber auch Makler, Rathäuser, Notare, und Banken profitierten. Der Anteil der Immobilienbranche am BIP wuchs laut Eurostat von 8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2000 auf 12 Prozent in 2006. Jährlich wurden bis zu 800.000 neue Wohnungen gebaut.
Abbildung 1: Entwicklung der Wohnimmobilienpreise in Spanien 1995-2010. Quelle: Spanisches Wohnungsministerium, CCOO, Staatliches Institut für Statistik (INE), eigene Darstellung.
Die Arbeitsplätze, die in jener Zeit geschaffen wurden, waren überwiegend prekär. Sie ließen die Arbeitslosenquote im Jahr 2007 ihren Tiefstand erreichen: Nur 8 Prozent der Spanierinnen und Spanier waren zu diesem Zeitpunkt arbeitslos.
Dieser Immobilienboom führte alleine zwischen 2002 und 2008 zu einer annähernden Verdopplung der Immobilienpreise (Abbildung 1). Da in Spanien 85 Prozent der Bevölkerung in Eigentumswohnungen lebt, hatte letzteres einen direkten Einfluss auf die Verschuldung der Privathaushalte. Die expansive Kreditpolitik verursachte einen regelrechten Wettbewerb zwischen den Banken um die Vergabe vermeintlich billiger Hypothekenkredite. Angesichts der "zu erwartenden" Immobilienpreissteigerungen und der niedrigen Inflation finanzierten die Banken Wohnraum teilweise ohne jeglichen Eigenanteil der Kreditnehmerinnen und Kreditnehmer. Diese Immobilienblase und deutlich ausgeweitete Kreditaufnahmen seitens zahlreicher kleinerer und mittlerer bildete die ökonomische Grundlage des spanischen Wirtschaftsaufschwungs.
Es wird oft gesagt, dass die spanischen Löhne und Gehälter stärker gestiegen seien als die Löhne und Gehälter in den übrigen Eurostaaten, also hauptsächlich das Lohnkostenwachstum für den Verlust an Wettbewerbsfähigkeit verantwortlich sei. Allerdings: Die Löhne und Gehälter in Spanien entwickelten sich jahrelang weitgehend analog der Inflation, Reallohngewinne hatten die Beschäftigten also nicht.
Für Unternehmen sind ohnehin nicht die absoluten Lohnkosten, sondern die Lohnstückkosten relevant. Der Indikator "Lohnstückkosten" setzt Lohnkosten ins Verhältnis zur Produktivität einer Volkswirtschaft. Hierbei ist in der Tat das Problem festzustellen, dass sich die spanische Produktivität vergleichsweise schwach entwickelt hat. Sie stieg in den Vor-Krisen-Jahren 1999 bis 2008 nur um 0,1 Prozent im Jahresschnitt. In der Eurozone insgesamt stieg sie demgegenüber um 0,7 Prozent, in Deutschland sogar um 1,0 Prozent. Dies führte auch in Spanien von 1999 bis 2008 zu einem hohen Lohnstückkostenwachstum von insgesamt 33,9 Prozent - in der Eurozone lag dieser Wert lediglich bei 16,3 Prozent. Ein Ausreißer mit ökonomischem Gewicht ist dabei Deutschland, dessen Lohnstückkosten in diesem Zeitraum nur um 0,5 Prozent anstiegen. In Deutschland blieben die Lohnsteigerungen damit weit hinter den Steigerungen der Produktivität zurück, gerade auch im Vergleich mit dem Rest der Eurozone. Dies feuerte den Wettbewerb um möglichst niedrige Lohnstückkosten in Europa deutlich an - und führte in den meisten europäischen Staaten, auch Spanien, zu einem deutlichen Wettbewerbsnachteil gegenüber Deutschland.
Für die niedrige Produktivität - und die letztlich auch hieraus resultierende schwache Wettbewerbsfähigkeit der spanischen Wirtschaft - verantwortlich waren die mangelnden Investitionen in Innovation, Forschung und Entwicklung, aber auch in die Weiterqualifizierung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Eine grosse Anzahl der – in Spanien besonders zahlreichen – Kleinen und Mittleren Unternehmen (KMU) investiert wenig in Bildung und Forschung. So liegt die Zahl der Patentanmeldungen je eine Million Einwohner in Spanien seit Jahren nur etwa bei einem Viertel der Patentanmeldungen in der Europäischen Union und verglichen mit Deutschland sogar nur etwa bei einem Zehntel. KMU haben zudem enorme Schwierigkeiten bei der Internationalisierung ihrer Produkte und Dienstleistungen. Nur wenige spanische Unternehmen haben einen internationalen Durchbruch erreicht. Für die fehlende Internationalisierung der spanischen Wirtschaft war entscheidend, dass die wachstumstragenden Branchen vor allem die Bau- und die Tourismusbranche waren, die eben kaum internationalisierbar sind.
Die fehlenden Investitionen im Privatsektor wurden auch durch den öffentlichen Sektor nicht kompensiert. Der Staat konzentrierte sich vielmehr auf den Abbau der Staatsverschuldung. Die Schuldenstandsquote wurde von 1999 bis 2007 um 28 Prozentpunkte bis auf 36 Prozent des BIP gesenkt. Hingegen waren die staatlichen Ausgaben für Erziehung und Bildung sowie die öffentlichen Investitionen in Forschung, Entwicklung und Innovation viel zu niedrig. Erstere lagen im Jahr 2009 nur bei 0,6 Prozent, letztere knapp über 1,3 Prozent des BIP, womit das Ziel der Lissabon-Strategie von drei Prozent nicht einmal annähernd erreicht wurde.
Abbildung 2: Leistungsbilanzdefizit Spaniens 1980-2011 in Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Quelle: INE, eigene Darstellung.
Die geringe Produktivität und die leicht überdurchschnittliche Inflation hatten eine wachsende Exportschwäche zur Folge, die im einheitlichen Euro-Währungsraum nicht durch die Abwertung der Währung ausgeglichen werden konnte. Sie führte wiederum zu einem hohen Leistungsbilanzdefizit (Abbildung 2). Dem standen enorme und im Zeitverlauf wachsende Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands und weniger anderer europäischer Staaten gegenüber. Das spanische Leistungsbilanzdefizit belief sich 2008 auf ganze 104,6 Mrd. Euro, was 9,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachte.
Abbildung 3: Außenverschuldung spanischer Wirtschaftsakteure 2002-2011 in Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Quelle: Spanische Nationalbank, CCOO, eigene Darstellung.
2007 hatte Spanien nach den USA das zweitgrößte Leistungsbilanzdefizit der OECD. Die Verschuldung der spanischen Privataushalte und der Unternehmen war dementsprechend stark gestiegen - zunächst aber noch nicht die staatliche Verschuldung: Während die spanische Staatsschuld zu Beginn der Krise eine der niedrigsten der EU war, lag die Außenverschuldung Spaniens im Jahr 2009 bei über 160 Prozent des BIP (Abbildung 3).
Dieses Wachstumsmodell wurde vom früheren spanischen Ministerpräsidenten, dem Konservativen José MarÃa Aznar, als für die ganze Welt geeignetes Modell dargestellt, was der 2004 gewählte sozialistische Ministerpräsident José Luis Zapatero ohne Weiteres gerne übernahm. Doch das Modell stand auf tönernen Füßen. Die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise brachte die Strukturschwächen der spanischen Wirtschaft schnell und brutal zum Vorschein. Strukturschwächen, die allerdings durch eine völlige Fehlkonstruktion der Währungsunion sowie durch eine insbesondere von Deutschland betriebene Billiglohnkonkurrenz in Europa überhaupt erst in diesem Ausmaß zum Tragen kommen konnten.
Die Krise - wirtschaftlich und sozial
Im Jahr 2008 kam es auch in Spanien zum offenen Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Finanzmärkte krachten zusammen, und mit ihnen der Zugang spanischer Banken zu Kapital. Gerade in kleineren und mittleren Betrieben kam es zu Kapitalengpässen mit verheerenden Folgen für die Beschäftigung. Von 2007 bis 2009 gingen über 1,6 Millionen Arbeitsplätze verloren. Allein im Bausektor waren es 920.000. Die Arbeitslosenquote stieg von 8,6 Prozent Anfang 2008 bis auf 24,4 Prozent im März 2012. Bei den 16- bis 24-Jährigen beträgt sie bis zu 52 Prozent. Die Krise führte zu steigenden Staatsausgaben und einbrechenden Steuereinnahmen. Das Haushaltsdefizit stieg vor diesem Hintergrund von 4,2 Prozent im Jahr 2008 auf 11,1 Prozent im Jahr 2009. Die Staatsschulden, die bis 2007 auf 36,1 Prozent des BIP gesenkt worden waren, stiegen bis 2011 wieder rasant auf bis zu 68,5 Prozent an.
Die ersten Maßnahmen der damaligen sozialistischen Regierung unter Ministerpräsident José Zapatero zielten darauf ab, die Nachfrage zu stimulieren und den wachsenden Beschäftigungsverlust zu stoppen. Es wurden 8 Mrd. Euro im Rahmen eines Bauprogramms an die Gemeinden verteilt, Abwrackprämien eingeführt und Kredite sowie Steuersenkungen für KMUs ermöglicht. Die Konjunkturprogramme hatten in weiten Teilen durchaus Erfolg. Im Mai 2010 aber änderte Zapatero seinen Kurs. Auf Druck des Europäischen Rats, der EZB und des Internationalen Währungsfonds (IWF) entwarf er einen Plan zur Haushaltskonsolidierung, mit dem er 45 Mrd. Euro einsparen wollte. Darin vorgesehen waren die Kürzung von Beamtengehältern, das Einfrieren der Renten und die zeitliche Verschiebung öffentlicher Bauvorhaben. Noch im Juni 2010 wurde eine Arbeitsmarktreform erlassen, die seitens der Unternehmen genutzt wurde, um spontane Massenentlassungen durchzuführen. Im Juli 2010 wurde die Mehrwertssteuer von 16 auf 18 Prozent erhöht und ein Gesetz zur Reform der Sparkassen erlassen. Das Renteneintrittsalter wurde von 65 auf 67 Jahre erhöht. Mitte August 2011 schrieb die Sozialistische Partei PSOE in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, gemeinsam mit dem konservativen Partido Popular (Volkspartei), eine so genannte "Schuldenbremse" in die spanische Verfassung.
Mit dieser Austeritätspolitik erzielte die Regierung Zapatero aber keinen Erfolg: Die Anzahl der Arbeitslosen stieg weiterhin. Die internationalen Finanzmärkte verlangten nicht etwa niedrigere, sondern sogar höhere Zinsen für Kredite an den spanischen Staat. Zapatero hatte seine Amtszeit mit den Worten begonnen: "Ich werde euch nicht enttäuschen!" In seine Amtszeit fiel dann am 29. September 2010 ein Generalstreik der beiden großen Gewerkschaften CCOO und UGT. Und in den Wahlen am 20. November 2011 endete sie mit der schlimmsten Wahlniederlage der Sozialistischen Partei in der jüngeren Geschichte.
Abbildung 4: Anzahl der Familien, in denen alle Familienmitglieder arbeitslos sind, in 1000. Quelle: EPA/INE, eigene Darstellung.
Als daraufhin Mariano Rajoy und seine rechte Volkspartei das Ruder mit absoluter Mehrheit übernahmen, waren in Spanien schon in über 1,5 Millionen Familien alle Familienmitglieder arbeitslos (Abbildung 4). Da immer mehr Menschen ihre Hypothekenkredite nicht mehr zurückzahlen konnten, nahm die Zahl der Räumungen exorbitant zu. Über 500 Mal pro Tag wurden seit Anfang des Jahres 2012 Familien durch Gerichtsvollzieher aus ihren Wohnungen vertrieben.
Der neugewählte spanische Ministerpräsident setzt die Austeritätspolitik seines Vorgängers fort. Mit Leib und Seele setzt er die Maßnahmen um, die ihm seitens der Europäischen Zentralbank, dem Europäischen Rat und dem IWF vorgeschlagen wurden.
Am 10. Februar 2012 wurde erneut eine Arbeitsmarktreform durchgesetzt. Durch sie wurden unter anderem die Tarifbindungen in bestimmten Unternehmen abgeschafft, die Entschädigungen für Kündigungen reduziert sowie Möglichkeiten für Unternehmen geschaffen, bei sinkender Produktivität oder abnehmender Wettbewerbsfähigkeit einseitig Löhne, Arbeitszeit und Urlaubszeiten zu bestimmen oder Versetzungen anzuordnen. Die Antwort der Gewerkschaften war ein neuerlicher Generalstreik, der am 29. März stattfand. 70 Prozent der Wirtschaft wurden lahmgelegt, Millionen Menschen demonstrierten auf den Straßen. Rajoy hielt dennoch an seinem Kurs fest: Am Tag nach dem Generalstreik präsentierte er den spanischen Haushaltsplan, der Einschnitte im Umfang von 27 Mrd. Euro aufwies.
Am 28. Mai wurde bekannt, dass die frühere Sparkasse von Madrid, jetzt Bankia, vor dem Bankrott stand und gerettet werden sollte. Aus den anfänglichen 7 Mrd. Euro, die dafür vorgesehen waren, wurden schließlich 23,5 Mrd. Diese Summe entspricht annähernd den zuvor beschlossenen Kürzungen. Am 19. Juli wurde ein neues Konsolidierungspaket für 2012-2014 im Umfang von 65 Mrd. Euro durchgesetzt. Die Maßnahmen schlossen unter anderem eine deutliche Mehrwertsteuererhöhung, Lohnkürzungen für Beamtinnen und Beamte sowie eine Kürzung des Arbeitslosengelds ein. Zwischenzeitlich wurden auch andere Maßnahmen genehmigt - wie etwa höhere Zahlungen durch Rentnerinnen und Rentner für die medizinische Versorgung.
Abbildung 5: Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Spanien. Quelle: INE, eigene Darstellung.
Mit ihrer Austeritätspolitik wollten die Regierungen Zapatero und Rajoy den Zugang Spaniens zu den internationalen Kapitalmärkten gewährleisten. Die Risikoprämien auf Zinsen, die der Staat für seine Kredite zu bezahlen hat, wollte man niedrig halten, indem man durch "Sparen" das "Vertrauen" der "Märkte" wieder herstellt. Aber: Mit dieser Politik sind beide Regierungen gescheitert. "Die Finanzmärkte" schätzen die Maßnahmen nicht, die die beiden Ministerpräsidenten getroffen haben - denn auch "die Finanzmärkte" registrieren die verheerenden wirtschaftlichen Folgen dieser Politik. Seit Mai 2010, als diese Austeritätspolitik eingeführt wurde, sind die Risikoprämien von knapp über 160 Prozentpunkten auf zeitweise über 600 Prozentpunkte gestiegen. Die Zinsen, die Spanien auf Kredite an den Kapitalmärkten zu bezahlen hat, sind also nicht zurückgegangen, sondern geradezu explodiert. Und auch die Arbeitslosigkeit stieg drastisch an (Abbildung 5).
Forderungen der spanischen Gewerkschaften
Die angeblichen Lösungen der vom europäischen Rat ausgehenden Kürzungspolitiken verschlechtern zunehmend die wirtschaftliche und soziale Lage, zugleich verursachen sie ein immenses Demokratiedefizit. Die Bevölkerung und ihre gewählten Vertreterinnen und Vertreter werden zunehmend vor vollendete Tatsachen gestellt. Austeritätsfixierte Politik ist also nicht nur unwirksam, sondern auch unsozial und undemokratisch. Die europäischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stehen vor gemeinsamen Herausforderungen: Der neoliberalen Offensive standzuhalten, soziale Elemente der europäischen Integration zu verteidigen und ein sozialeres Europa zu erkämpfen. Die spanischen Gewerkschaften CCOO und UGT arbeiten in diesem Sinne eng zusammen.
Gemeinsam fordern sie Lösungen auf europäischer Ebene. Klar ist: Der soziale Dialog und Tarifautonomie sind unabdingbare Voraussetzungen für die Überwindung der Krise. Notwendig ist ferner, dass sich die Staaten des Euroraums der spekulativen Offensiven der Finanzmärkte erwehren können - hierzu braucht es gemeinsame europäische Staatsanleihen sowie den Zugang zu Krediten der Europäischen Zentralbank. Eine Lösung der Eurokrise kann es zudem nur unter den Vorzeichen wirtschatlicher und sozialer Gerechtigkeit geben: So müssen zum einen diejenigen zur Kasse gebeten werden, die Verantwortung für die Krise tragen. Zum anderen müssen zukünftige Kosten für die Überwindung der Krise wie auch für die Entwicklung eines nachhaltigen europäischen Wachstumsmodells gerecht verteilt werden. Dazu bedarf es einer progressiven Besteuerung von Einkommen und Vermögen. Den Steuerparadiesen, der Steuerhinterziehung und der Korruption muss ein Ende gesetzt werden.
Nicht spanische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer rufen Steuerzahlende aus anderen Ländern zur Kasse. Es sind vielmehr die spanischen und europäischen Banken, die sich in ihrer expansiven Kreditpolitik übernommen haben und die nun ihre Risiken auf die gesamte europäische Bevölkerung überwälzen wollen. Die Währungsunion bedarf vor diesem Hintergrund auch aus Gerechtigkeitsgründen einer gemeinsamen Steuerpolitik, die überhaupt erst eine gemeinsame Wirtschaftspolitik möglich macht.
Läge der Umfang von Steuerhinterziehung in Spanien auf dem niedrigeren europäischen Niveau, so hätten die dortigen öffentlichen Haushalte jährlich mehr als 35 Mrd. Euro zusätzliche Einnahmen. Stattdessen aber hat die spanische Regierung in diesem Jahr eine Steueramnestie für Steuerhinterzieherinnen und Steuerhinterzieher erklärt – und das, obwohl höhere Einnahmen absolut notwendig wären. Spanien braucht öffentliche Investitionen, um Schwächen in der Berufsbildung, in der Forschung und Entwicklung zu überwinden.
Am 25. Januar unterschrieben spanische Gewerkschaften und Arbeitgeber ein Abkommen über Beschäftigung und Tarifverhandlungen. Die Erhöhung der Lebenshaltungskosten sollte eingedämmt werden, Gewinne sollten wieder in die Betriebe investiert werden, um deren Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Die spanische Regierung aber verzichtete darauf, dieses Ergebnis des sozialen Dialogs aufzunehmen.
Da verwundert es nicht, dass die Auseinandersetzungen und sozialen Konflikte in Spanien derzeit massiv zunehmen. Die Politik der jetzigen Regierung widerspricht dem Programm, mit dem sie zu den letzten Wahlen antrat. Die spanischen Gewerkschaften verlangen daher eine Volksabstimmung über die aktuelle Kürzungspolitik. Stattdessen aber verkündet die Regierung wieder neue Kürzungen. Diesmal soll es an die Renten gehen (die Mindestrente beträgt heute schon ohnehin kaum über 500 Euro).
Erfreulich ist, dass die spanischen Gewerkschaften in ihrem Kampf einen immer größeren Rückhalt erfahren. Sie agieren gemeinsam mit einer großen Zahl sozialer Bewegungen und Initiativen. Es ist also in Spanien ein heißer Herbst zu erwarten. Am 15. September werden Gewerkschaften und soziale Bewegungen gemeinsam auf Madrid marschieren. Und auch ein neuer Generalstreik ist äußerst wahrscheinlich.
Dieser Text erschien zuerst in WISO-Info Ausgabe 3/2012.
Ricard Bellera i Kirchhoff ist Gewerkschaftssekretär der CCOO Katalonien.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.