Straßenverkauf: Eine selten thematisierte Arbeits- und Lebenswelt
13. Dezember 2018 | Verena Altenhofen
Migrantische Arbeitswelten sind vielfältig. Selten findet der sogenannte fliegende Handel Aufmerksamkeit, der selbstständige Verkauf auf der Straße. Dieser Artikel stellt drei Personen in Fallporträts vor, deren Geschichten exemplarisch für die Lebens- und Arbeitswelt des Straßenverkaufs in Südtirol stehen.
Die nachfolgenden Fallgeschichten sind im Rahmen eines Forschungsprojektes der Universität Innsbruck entstanden. Sie porträtieren drei Straßenverkäufer_innen aus unterschiedlichen Herkunftsländern, die nach Südtirol kamen. Die aus Kroatien stammende Susana, der Senegalese Paul und der aus Bangladesh stammende Rudy verbindet ihre Arbeit als selbstständige Straßenverkäufer_innen. Susana und Rudy verkaufen in der Altstadt von Bozen, Paul in Brixen. Susana hat sich vor allem auf Schals und Tücher spezialisiert, im Winter variiert sie ihr Angebot mit bestickten Tischdecken und Gardinen. Rudy verkauft Handyzubehör, vor allem Schutz-Schalen für gängige Smartphone-Modelle in vielen verschiedenen Varianten. Paul verfügt über ein etwas breiteres Warenangebot: Sein Schwerpunkt liegt auf Sonnenbrillen und Armbändern, von Zeit zu Zeit bietet er auch kleine Handventilatoren, Feuerzeuge, Kugelschreiber, Mini-Taschenlampen oder Ähnliches zum Verkauf.
Susana
Der Waltherplatz in der Altstadt von Bozen ist durch zahlreiche Cafés und Restaurants sowie Terrassen geprägt, die sich rund um den zentral am Platz gelegenen Brunnen, dem Walther-Denkmal, aufreihen. Ich sehe Susana, wie sie zusammen mit einer anderen Frau ihre Tücher und Schals, die sie über den Arm gehängt hat, anbietet. Als sie am Rand des Waltherplatzes eine Pause macht und eine Zigarette raucht, spreche ich sie an. Ich erzähle ihr von meinem Interesse, mehr über Verkäufer_innen, die wie sie Ware auf der Straße verkaufen, zu erfahren und frage, ob sie Lust auf ein Gespräch hätte. Sie stimmt zu und sagt, dass es ab 16 Uhr ruhiger auf dem Platz werden würde, dann könnten wir sprechen. Ich würde sie dann schon finden, irgendwo hier am Platz sei sie unterwegs. Die andere Frau geht sofort sichtlich auf Abstand, als ich mit Susana ins Gespräch komme. Später erklärt Susana mir, dass es ihre Cousine sei, die sie begleitet, und dass ihre Scheu dadurch begründet sei, dass sie kaum Deutsch spreche.
Ich bin um Punkt 16 Uhr am Waltherplatz. Als ich schon zweifle, ob sie überhaupt noch kommt, sehe ich sie um zwanzig Minuten nach vier Uhr zum Platz kommen. Ich bin zuerst einmal sehr erleichtert, dass dieses Gespräch zustande kommt. Ich sage ihr, wir könnten in ein Café ihrer Wahl gehen, sie sucht zielstrebig ein Café aus, indem ihre Nichte als Kellnerin arbeitet. Hier mache sie immer Pause während des Arbeitstages. Wir setzen uns an einen kleinen Tisch.
Susana scheint in den Mittvierzigern zu sein. Sie kommt aus Kroatien. Vor rund 25 Jahren, 1990, während des Balkankrieges, migrierte sie zusammen mit ihrem Mann nach Wien. Auch dort bestritt sie wie heute ihren Lebensunterhalt durch den Verkauf verschiedener Waren auf der Straße. Sie blieben neun Jahre in Österreich. Bereits seit 16 Jahren leben die beiden nun in Bozen. Sie sei schon immer Verkäuferin gewesen, habe noch nie etwas anderes getan. Schon ihre Eltern hätten einen beweglichen Verkaufsstand gehabt, mit dem sie an verschiedenen Orten verkauften. Sie half ihren Eltern bei dieser Arbeit, seit sie ein kleines Mädchen war. Die Familie sei damals sehr oft umgezogen, abhängig von Urlaubszeiten, haben sie an Stränden und in großen Städten Souvenirs und Tücher verkauft. Susana grenzt sich an dieser Stelle des Gesprächs von Sinti und Roma ab, indem sie betont, dass ihre Familie immer eine feste Wohnung gehabt habe. Zuerst zog die Familie in eine neue Wohnung um, dann habe man dort verkauft, für kurze Zeit sei sie dann dort auch immer zur Schule gegangen. Im Gespräch erwähnt sie mehrmals, dass sie heute zusammen mit der ganzen Familie nicht weit vom zentral gelegenen Waltherplatz in einer Mietwohnung wohnt. Zusammen mit Ihrem Ehemann und den beiden Töchtern (16 und 26 Jahre alt) und der der Cousine und deren Familie. Auch in Kroatien haben Susana und ihr Mann noch Verwandte. Einmal im Jahr besuche sie sie dort und nehme dafür eine lange und, wie sie beschreibt, beschwerliche Reise mit dem Bus auf sich. Die Fähre oder das Flugzeug seien zu teuer. Gerne würde sie ihre Familie öfter besuchen, doch leider reiche dafür das Geld nicht. »Natürlich«, sagt sie, würde sie sich eine Festanstellung wünschen. Der Verkauf auf der Straße sei okay, aber eben auch sehr schwer für sie. Schwer, weil sie manchmal Probleme hat, die laufenden Kosten zu decken. Denn an einem schlechten Tag verdiene sie durch den Verkauf von Schals und Tüchern etwa zehn Euro. An einem guten Tag seien es vierzig bis fünfzig Euro – wenn ich an dieser Stelle von einer fünftägigen Arbeitswoche ausgehe, beträgt Christinas monatliches Einkommen zwischen 200 und 800 Euro.
Als Kind sei sie nur selten zur Schule gegangen, immer nur ein paar Wochen, bis sie wieder umgezogen seien. Das heutige Bewerbungssystem, bei welchem es vor allem um den Lebenslauf gehe, mache es ihr sehr schwer, eine Festanstellung zu finden. Susana verfügt zwar über keinen Schul- oder Berufsabschluss, jedoch über jahrelange Berufserfahrung als Verkäuferin. Die in einem Bewerbungsprozess geforderten, offiziell anerkannten Abschlüsse und schriftlichen Zeugnisse kann sie nicht vorweisen. Susanas Berufserfahrung lässt sich also nur sehr bedingt bis gar nicht einsetzen
Für gewöhnlich verbringt sie ihren Arbeitstag am Waltherplatz, geht durch die Terrassen der Cafés und bietet den Menschen ihre Tücher an. Die meisten Bar- und Cafébesitzer_innen kennen sie schon jahrelang, weshalb sie ohne Probleme die dort sitzenden Menschen ansprechen darf. Gibt es neue Besitzer_innen, fragt sie vorher nach, damit es keinen Ärger gebe. Aber die meisten Leute am Waltherplatz seien nett zu ihr. Es gibt natürlich »solche und solche, aber das ist halt so.« Sie macht mich ungefragt darauf aufmerksam, dass sie »schon einen Gewerbeschein« hat. Es scheint ihr wichtig zu sein, dieses Detail anzubringen, um die Legalität ihrer Arbeit herauszustreichen.
Meistens arbeitet sie von in der Früh bis mittags, macht eine Stunde Mittagspause und arbeitet am Nachmittag abhängig vom Wetter noch bis circa 16 Uhr. Danach sei nicht mehr viel los bis abends, erklärt sie. Im Winter oder bei schlechtem Wetter passt sie sich flexibel an und ändert ihre Ware: Dann holt sie dickere Schals, im Winter bestickte Tischdecken und Gardinen aus ihrer Wohnung. Sie kauft die Ware von verschiedenen Händler_innen aus Italien, oft bringt sie auch etwas aus Kroatien mit. Das, wie sie es nennt, »ganze Zeug« lagert sie in ihrer Wohnung.
Susana hat zwei Töchter im Alter von 16 und 26 Jahren. Als sie mit ihrem Mann von Jugoslawien nach Wien reiste, ließ sie ihre erste Tochter bei ihren Großeltern, um sich erst selbst neu orientieren zu können. Nach zwei Jahren holten sie die Tochter dann nach Wien nach. Die jüngere Tochter ist in Bozen geboren. Sie sei schon hier in den Kindergarten gegangen, danach in die deutsche Schule. Weil es danach leichter sei, Arbeit zu finden, wenn man gut deutsch könne, begründet Susana die Wahl der Schule. Sie kenne viele Leute, die nicht gut deutsch sprächen und deshalb nun Probleme hätten eine Arbeit zu finden. »Außerdem sprechen die meisten Menschen hier deutsch.« Als überwiegend deutschsprachige Migrantin mit Migrations- und Arbeitserfahrung in Österreich liegt ihre Perspektive auf Südtirol, auf die eines deutschsprachigen Landesteils Italiens. Dies wird auch durch die Schulwahl für ihre Tochter deutlich.
Paul
Paul kommt aus dem Senegal. Er ist in den Mittdreißigern. Er hat eine sehr offene Art zu sprechen, macht oft Witze und lacht viel. Bei unserem ersten Treffen ist Paul mir sofort sympathisch, mir gegenüber ist er neugierig, offen und stellt viele Fragen.
Paul lebt seit etwa fünf Jahren in Italien. Er ist mit dem Flugzeug vom Senegal nach Sizilien gereist, wo seine »frères« schon seit einigen Monaten waren. Hier ist uns nicht klar geworden, ob er mit »frères« von leiblichen Brüdern oder Freunden spricht, die er als »Brüder« bezeichnet. Paul suchte in Sizilien acht Monate vergeblich nach Arbeit und reiste dann nach Südtirol, wo er in Bozen schließlich eine Anstellung in einer Automobilfabrik im Industriegebiet der Stadt fand. In dieser Fabrik arbeiten vor allem italienischsprachige Arbeitskräfte, nur wenige sprechen Deutsch. Paul lernte schnell Italienisch, da ihm im Zuge dieser Anstellung ein Italienisch-Sprachkurs bezahlt wurde, den er mehrere Monate lang immer abends nach der Arbeit besuchte. Aufgrund der Wirtschaftskrise wurde ihm gekündigt, er wurde überraschend arbeitslos. Seine Stelle in der Fabrik müsse gestrichen werden, sagte man ihm damals. Seit dieser Zeit verkauft Paul als fliegender Händler auf der Straße. Das ist nun vier Jahre her. Der Straßenverkauf war und ist für ihn bis heute eine Notlösung, eine Strategie, der Arbeitslosigkeit zu entgehen. Es war nie seine freie Entscheidung, sich mit dem Verkauf von Waren auf der Straße selbstständig zu machen. Er sagt, in der Fabrik sei alles besser gewesen, deshalb bewirbt er sich in vielen Fabriken in ganz Südtirol und Norditalien. Aber meistens bekomme er nicht einmal eine Antwort auf seine Bewerbungen. Den Straßenverkauf sieht er als temporäre Tätigkeit, die er sofort für eine andere Arbeit eintauschen würde. Der Straßenverkauf hätte in diesem Zusammenhang jedoch den Vorteil, dass er schon morgen eine andere Arbeit beginnen könne. Die Unabhängigkeit, an keinen Vertrag mit Kündigungsfrist gebunden zu sein, formuliert er als großen Vorteil gegenüber anderen, die eine neue Arbeit erst nach einigen Wochen anfangen könnten.
Ähnlich wie Susana beschreibt er, dass die Arbeitssituation in Italien zurzeit generell schlecht sei, deshalb sei es schwer, eine Arbeit zu finden. Wie Susana erklärt auch er ungefragt, dass er eine »Lizenz zum Verkaufen« habe und sie selbst bezahle. Zum einen hebt er hier im Gespräch seine Selbstständigkeit hervor, indem er klarstellt, über genügend finanzielle Mittel zu verfügen, um seine »Lizenz« selbst zu finanzieren, zum anderen sieht er sich an dieser Stelle vielleicht in einer Position, in der er sich rechtfertigen muss: Er will klarmachen, dass es sich hierbei um eine legale Selbstständigkeit handelt.
Ein Nachbar, mit dem er gemeinsam in der Automobilfabrik arbeitete, sei noch immer dort angestellt. Es gebe also noch Hoffnung. Eine Anstellung als Arbeitnehmer in Lohnarbeit, das ist das ausgesprochene Ziel von Paul. Er distanziert sich klar von einer Wertschätzung seiner selbstständigen Tätigkeit im Straßenverkauf und äußert wie Susana den Wunsch nach einer Lohnarbeitsanstellung. Für beide scheint nur eine feste Anstellung, nicht aber Selbstständigkeit, mit finanzieller Absicherung verbunden zu sein. Paul empfindet »Hoffnung«, eine solche Art von Arbeit wieder zu finden.
Paul wohnt in der Nähe des Bozener Bahnhofs mit mehreren Senegalesen zusammen in einer Wohngemeinschaft. Auch seine unmittelbaren Nachbarn im Haus seien Senegalesen. Viele von ihnen arbeiten als Straßenverkäufer_in in Bozen und Meran. Ihre Ware kaufen sie gemeinsam in Brescia und Mailand. Manchmal bringt jemand auch Waren aus dem Senegal mit, so wie sein Freund Charles, der auch in Brixen verkauft. Er hat handgefertigte Ketten und anderen Schmuck für den Verkauf von seinem letzten Familienbesuch aus dem Senegal mitgebracht. Die beiden pendeln jeden Tag in der Früh von Bozen nach Brixen und abends wieder zurück. Die Standortwahl erklärt er mit der geringeren Konkurrenz in Brixen und seiner Bekanntheit, denn in Brixen würden ihn »schon alle kennen«. Viele der Käufer_innen seien Stammkund_innen, die fast täglich eine Kleinigkeit bei ihm kaufen würden.
Um Geld zu sparen kaufen sich beide für die Zugfahrten jedes Jahr den Südtirol Pass. Die Vorteile am Standort Brixen kompensieren aber den relativ großen Kosten- und Zeitaufwand für das Pendeln. Bevor sich die beiden in der Früh auf den Weg zum Bahnhof machen, wo sie den Zug um 9.00 Uhr nach Brixen nehmen, frühstücken und beten sie und die anderen Senegalesen gemeinsam. Mittagspause machen Paul und Charles um circa 12.30 für eine Stunde und halten diese genau ein. (Zweimal wurden Gespräche in der Mittagspause abgebrochen, weil die einstündige Mittagspause vorüber war.) Sonntags arbeiten beide nicht, das sei ihr freier Tag. Pauls Woche ist also durch sechs Arbeitstage gekennzeichnet und auch der Arbeitsrhythmus ist sehr regelmäßig: Täglich wird zu denselben Zeiten gearbeitet, auch Pausen werden genau eingehalten. Er arbeitet wöchentlich grob überschlagen zwischen 40 und 50 Stunden.
Paul wurde als Reaktion auf ökonomische Zwänge, Ursachen und Folgen sozialer Differenzen und asymmetrischer Herrschaftsverhältnisse zum Kleinunternehmer. Dabei verfügt er prinzipiell nur über seine eigene Arbeitskraft. Im Senegal hat Paul als Minibus-Taxifahrer gearbeitet. Er hatte dafür ein großes Auto eines Freundes zur Verfügung. Seine Frau und seine beiden Kinder sind noch immer im Senegal. Jeden Tag telefoniert er mit ihnen. In unseren Gesprächen betont er mehrmals, dass die Familie immer im Vordergrund stehe und sie »alles« für ihn ist. Regelmäßig schickt er einen Anteil seines verdienten Geldes nach Hause, seine Kinder können deshalb im Senegal die Schule besuchen. Das Nachholen seiner Familie nach Südtirol stellt für ihn keine Option dar, die Kinder würden ja noch zur Schule gehen. Erst nach der Schule, sagt er, »wäre das vielleicht nicht schlecht.«
Sprachen sind für Paul etwas zentral Wichtiges, mehrere Male sprechen wir darüber. Als er nach Italien kam, sprach er Wolof, Französisch und Englisch. Wenn wir bei unseren Treffen über Sprachkenntnisse sprechen, betont er, dass man die Sprache des Landes, in das man kommt, lernen müsse. Schließlich wolle er sich mit den Menschen unterhalten können. Deshalb will er neben Italienisch auch noch Deutsch lernen: »Wenn ich an Deutsche etwas verkaufen will, muss ich ja Deutsch können.«
Sprache ist überhaupt ein zentrales Thema für Migrant_innen, insbesondere in Südtirol mit seiner offiziellen Dreisprachigkeit und der Verpflichtung einer sprachlichen Zugehörigkeitserklärung. Die Sprache als Kommunikationsmittel spielt bei Susana und Paul eine sehr wichtige Rolle, da sie nicht nur in deren privater Lebenswelt, sondern auch im Arbeitskontext verhandelt wird. Beide gehen bewusst mit den Sprachen in Brixen und Bozen um, haben sich bewusst für eine von beiden entschieden oder wollen bewusst beide erlernen, um ihre Arbeitssituation zu verbessern. Für Susana ist klar die deutsche Sprache mit besseren beruflichen Chancen verbunden. Paul hat während seiner letzten Anstellung Italienisch gelernt, will jedoch, um seine Kommunikationsfähigkeit auf deutschsprachige Kund_innen zu erweitern, Deutsch lernen.
Rudy
Rudy ist sehr jung, er ist erst 19 Jahre alt. Ich lerne ihn in der Bozener Altstadt kennen, als er gerade in der Museumsstraße steht und seine Handyschutzschalen zum Verkauf anbietet. Er verkauft oft dort, denn diese Straße ist meist voller Tourist_innen, die entlang der kleinen Geschäfte, Boutiquen und Cafés schlendern. Die Handyschalen hat er auf einem großen Holzbrett mit Tragegriff aufgehängt. Wenn er an einem Ort stehen bleibt, lehnt er das Brett gegen eine Wand oder sein Bein und hat somit seine Hände frei. Oft hat er sein Handy in der Hand, auch während unserer Gespräche sieht er oft darauf und wird mehrere Male angerufen. Nach einem ersten kurzen Gespräch in der Museumsstraße erklärt sich Rudy schnell bereit, in ein Café zu gehen, um dort ein Gespräch fortzuführen.
Rudy kommt aus Bangladesh. Wie Susana und Paul spricht auch er mehrere Sprachen. Lachend zählt er die Sprachen an seinen Fingern auf: Neben Bengali und Urdu spricht er Italienisch und Englisch. Er ist neugierig und stellt viele Gegenfragen.
Zusammen mit seinem Vater sei er von Bangladesh zuerst nach England migriert, von dort dann nach Italien. In Italien lebten sie in vielen verschiedenen Städten, wie Venedig, Mailand, Padua, Rom und Bozen. In Rom eröffneten sein Vater und er in einem touristisch geprägten Teil der Altstadt einen Handyladen, wo sie Zubehör verkauften und Handys reparierten. Sie seien jedoch »über den Tisch gezogen« worden und daraufhin nach Bozen weiter gezogen. Vor drei Monaten sei sein Vater an den Folgen einer Krankheit verstorben. In der Erzählsituation ist Rudy sichtlich angespannt, vermeidet Blickkontakt, mehrere Male bezeichnet er sich als »tutto solo« – ganz alleine. Rudy hat noch mehrere Schwestern, die derzeit in England leben, er hat sie schon jahrelang nicht mehr gesehen. Es fällt ihm sichtlich schwer, über sie zu sprechen. Andere Verwandte in Bangladesh habe er nicht mehr. Seit dem Tod seines Vaters wohne er gemeinsam mit Freunden in einer Wohngemeinschaft in Bozen. Er sei auch zur Schule gegangen, aber nach dem Tod seines Vaters habe er die Schule abgebrochen, um weiter auf der Straße verkaufen zu können. Für diese Art von Arbeit sei die Schule ohnehin nicht wichtig. Anders als Susana misst Rudy seiner Schulbildung nicht viel Bedeutung bei. Sein Ziel sei es, sich irgendwann selbstständig zu machen. Er wolle einen solchen Laden eröffnen, wie er ihn mit seinem Vater hatte. Die Waren dazu hätte er ja schon – mit Stolz erzählt er, dass er Waren im Wert von 5000 Euro besäße. Sein verstorbener Vater stellt für Rudy ein Vorbild dar, da er mit einem eigenen Geschäft unabhängig und erfolgreich war. Das Unternehmer_innentum ist in den Augen von Rudy mit Unabhängigkeit, Erfolg und Selbstständigkeit verbunden.
So gibt uns Rudy auch zu verstehen, dass er mit dem Verkauf auf der Straße zufrieden sei: Er sei ein sehr spontaner Mensch, der ungern Pläne mache, sondern genau das, wonach ihm gerade sei. Es sei von Vorteil, dass er Handyzubehör verkaufe, schließlich besitze jeder heute ein Handy. Er könne also immer und überall verkaufen, egal wo. Der Straßenverkauf gibt ihm genug Unabhängigkeit, um selbst zu entscheiden, wann und wie lange er arbeitet, er muss sich niemandem unterordnen. An manchen Tagen arbeite er viel, an anderen eben sehr wenig oder gar nicht – das wisse er vorher nie.
Als ein Streifenwagen der Polizei durch die enge Museumsstraße fuhr, sprach Rudy seine Dokumente an: Probleme mit der Polizei habe er keine, denn »solange du die Dokumente hast, ist alles in Ordnung. Die kennen uns schon und wissen, wer gültige Dokumente hat«. Wieder werden hier die gültigen Papiere, wie »der Gewerbeschein« von Susana und »die Lizenz« von Paul, von selbst angesprochen, um sich von diversen nicht-legalen Praxen abzugrenzen.
So wie Rudy, haben auch Susana und Paul feste Orte gewählt, an denen sie vermehrt verkaufen: Dabei hängen die Orte von der Kund_innenfrequenz ab. Durch eine räumliche Subjektivierung werden also eigene Entscheidungen zum Ort der Arbeit und zur Mobilität möglich. Susana hat sich den Waltherplatz in Bozen als Arbeitsort angeeignet. Rudy bleibt diesbezüglich etwas flexibler, reagiert auf Jahres- und Tageszeiten sowie Tourist_innenströme und trifft täglich von neuem seine Ortswahl. Trotzdem hat auch er bevorzugte Orte wie die Museumsstraße und den Waltherplatz. Paul pendelt von Bozen nach Brixen, denn für ihn bietet Brixen mehr Vorteile.
In der Freizeit spiele Rudy gerne Fußball, oft auch mit befreundeten Senegalesen, die hier auch auf der Straße verkaufen würden. Außerdem gehe er gerne zum Bingo spielen in die Via Resia, dort gibt es bei einer Tankstelle eine Art Casino. Pro Woche verspiele er circa 50 Euro. Als wir von dieser Summe überrascht sind, erklärt er, er würde ja manchmal auch gewinnen – dann gewinne er zwischen 1,50 Euro bis drei Euro am Abend. Resolut lehnt er die Frage ab, ob wir ihn zu einem solchen Bingoabend begleiten könnten, in der Museumsstraße könnten wir uns jedoch jederzeit treffen.
Es handelt sich bei diesem Text um eine überarbeitete und stark gekürzte Fassung des nachfolgenden Artikels: Altenhofen, Verena (2017): Arbeits- und Lebenswelten von Straßenverkäufer_innen in Südtirol. In: Reckinger, Gilles/ Reiners, Diana/ Zinn, Dorothy (Hg.): Migrantische Arbeitswelten in Südtirol. Innsbruck. S. 129-148.
Verena Altenhofen hat 2018 ihren Master in Europäischer Ethnologie an der Universität Innsbruck abgeschlossen.