Streitthema Ladenschluss: Verlängerte Öffnungszeiten und die Arbeitsbedingungen im Einzelhandel
21. Juni 2013 | Marion Salot
Seit 2007 gibt es in Bremen – wie in den meisten anderen Bundesländern – ein neues Ladenschlussgesetz, das es dem Einzelhandel ermöglicht, an sechs Tagen in der Woche rund um die Uhr zu öffnen. Bremen hat sich für die Freigabe der Ladenöffnungszeiten an Werktagen entschieden, um den Einzelhandel gegenüber dem niedersächsischen Umland nicht zu benachteiligen. Allerdings wurde dies auch als notwendige und zeitgemäße Maßnahme angesehen, um den Bedürfnissen der Verbraucherinnen und Verbraucher nach möglichst uneingeschränktem Konsum gerecht zu werden. Wie sich die verlängerten Öffnungszeiten auf die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten auswirken würden, spielte bei der Entscheidung eine untergeordnete Rolle. Eine Analyse der Statistik und Gespräche mit Beschäftigten zeichnen diesbezüglich ein ernüchterndes Bild.
Nur noch jeder dritte Arbeitsplatz ist existenzsichernd
Im Land Bremen sind insgesamt etwa 20.000 Menschen im Einzelhandel tätig. 72 Prozent oder rund 14.000 von ihnen sind weiblich. Der Einzelhandel ist damit nach dem Bereich „Gesundheit und Soziales“ die zweitgrößte Branche, in der die Frauen im Land Bremen eine Beschäftigung finden. Entwicklungen oder politische Entscheidungen, die sich negativ auf die Arbeitsbedingungen auswirken, betreffen dementsprechend mehr als jede zehnte sozialversicherungspflichtig beschäftigte Frau. Vor allem seit Inkrafttreten des Hartz-II-Gesetzes im Jahr 2003, mit dem gezielt Anreize zur Schaffung von Minijobs gesetzt wurden, haben sich die Einkommensmöglichkeiten hier deutlich verschlechtert: Die Ausweitung der geringfügig entlohnten Beschäftigung hat zu einem systematischen Abbau von Vollzeitstellen beigetragen. Hiermit haben die Einzelhändler auf den fast beispiellosen Wettbewerb reagiert, der in dieser Branche herrscht. Um hier mithalten zu können, ist eine schlanke, flexible und kostengünstige Personalstruktur ein wichtiger Faktor. Immer mehr Einzelhandelsbetriebe steigen deshalb aus den Tarifverträgen aus.
Im Land Bremen ist dieser Prozess mittlerweile so weit fortgeschritten, dass unter den weiblichen Beschäftigten nur noch jede dritte eine Vollzeitstelle hat und damit in der Lage ist, ein existenzsicherndes Einkommen zu erwirtschaften. Denn das Lohnniveau im Einzelhandel ist so gering, dass das Gehalt eines Teilzeitjobs nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Bei den männlichen Beschäftigten sind immerhin noch knapp 60 Prozent in Vollzeit tätig. Allerdings ist der Anteil der Minijobber auch hier beträchtlich (Abbildung 1).
Abbildung 1: Beschäftigungsstruktur im Bremer Einzelhandel. Quelle: Bundesagentur für Arbeit.
Im Vergleich mit anderen Bundesländern weist Bremen inzwischen den niedrigsten Anteil an Vollzeitstellen auf. Hier sind mittlerweile ein Drittel der Einzelhandelsbeschäftigten Minijobber. Der Anteil der Niedriglohnempfängerinnen und -empfänger liegt bei 40 Prozent und ist damit doppelt so hoch wie in der Gesamtwirtschaft.
Die fortschreitende Prekarisierung im Einzelhandel setzte zwar schon vor dem Inkrafttreten des Ladenschlussgesetzes ein, dieses hat den Prozess aber weiter forciert. Zwar entstanden im Land Bremen zwischen 2007 und 2011 knapp 1.000 neue Arbeitsplätze (+ 5,4 Prozent). Dieser Zuwachs fällt aber vergleichsweise gering aus, wenn berücksichtigt wird, dass es in den vergangenen Jahren nicht nur zu einer Ausweitung der Ladenöffnungszeiten gekommen ist, sondern auch die Verkaufsflächen deutlich zugenommen haben. So wurde in Bremen beispielsweise 2008 das Einkaufszentrum „Waterfront“ eröffnet, mit dem die Einzelhandelslandschaft um sagenhafte 44.000 qm Verkaufsfläche erweitert wurde.
Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Arbeitsplatzzuwächse der vergangenen Jahre weitgehend auf Teilzeitstellen konzentrierten und damit auf Beschäftigungsverhältnisse, die selbst in tarifgebundenen Betrieben nicht existenzsichernd sind. Der Trend zur Teilzeitbeschäftigung wird häufig damit begründet, dass die Geschäftsführer daran interessiert sind, möglichst viele Hände zu haben und dementsprechend flexibel zu sein. Er verdeutlicht aber auch, mit welch dünner Personaldecke die Einzelhändler planen:
„Unser Chef sagt dann immer – das sagen sie alle, das kriegen sie wahrscheinlich auf irgendwelchen Geschäftsleitertreffen eingebläut – wir brauchen Hände. Es nützt mir nichts, wenn ich hier eine Vollzeitkraft habe, die dann morgen eine Woche krank ist. Wenn ich dann auf dem Platz zwei Teilzeitkräfte hätte, dann hätte ich wenigstens immer noch die eine, die dann kommen würde.“ (Betriebsrätin eines SB-Warenhauses)
Während in den vergangenen Jahren vor allem Frauen vom Abbau der Vollzeitstellen betroffen waren, wird die Beschäftigungssituation im Einzelhandel auch für Männer immer prekärer. Sie sind in dieser Branche traditionell unterrepräsentiert, besetzen aber in der Regel die Führungs- und Koordinationspositionen und damit in erster Linie Vollzeitstellen. Allerdings schwinden auch in diesem Bereich die Chancen auf einen existenzsichernden Arbeitsplatz immer weiter, denn durch die zunehmende Automatisierung der Warenwirtschaft werden immer mehr Führungspositionen wegrationalisiert. Zwischen 2007 und 2011 waren überwiegend Männer von dem Zuwachs an Minijobs betroffen (Abbildung 2).
Abbildung 2: Beschäftigungsentwicklung im Einzelhandel nach Geschlecht im Land Bremen (2007 bis 2011). GeB = geringfügig Beschäftigte. Quelle: Bundesagentur für Arbeit.
Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten: Katalysator für die Prekarisierung
In welchem Zusammenhang steht nun die Beschäftigungsentwicklung im Einzelhandel mit den verlängerten Öffnungszeiten? Um dies beurteilen zu können, ist ein Blick auf die Arbeitsplatzentwicklung in den verschiedenen Einzelhandelsbereichen notwendig. Auf die Liberalisierung des Ladenschlussgesetzes haben vor allem Lebensmitteleinzelhändler reagiert, insbesondere die großen SB-Warenhäuser, Supermärkte und Discounter.
Abbildung 3: Beschäftigungsentwicklung im Bremer Einzelhandel (Bremen-Stadt) 2007 bis 2011. Quelle: Statistisches Landesamt Bremen.
Abbildung 3 zufolge lassen sich in diesen Bereichen zwei Entwicklungen ablesen: Zum einen kam es in dem Bereich „Einzelhandel mit Nahrungs- und Genussmitteln“, in dem kleine Fachgeschäfte wie Bäckereien, Fleischereien, Gemüsehändler usw. erfasst werden, zu einem Arbeitsplatzabbau – und zwar sowohl bei den Vollzeit- und Teilzeitstellen als auch bei den Minijobs. Zum anderen hat sich gerade in der Rubrik „Einzelhandel mit Waren verschiedener Art“ das Ersetzen von Vollzeit- durch Teilzeit- und Minijobs fortgesetzt. Die verlängerten Ladenöffnungszeiten scheinen den Handlungsdruck zur Flexibilisierung und Senkung der Personalkosten weiter forciert zu haben. Vielfach wird deshalb auf Aushilfen beziehungsweise geringfügig entlohnte Beschäftigte zurückgegriffen. Einige Märkte decken den zusätzlichen Personalbedarf in den späten Abendstunden aber auch durch Leiharbeitsfirmen ab oder vergeben entsprechende Werkverträge – das Ergebnis eines Dilemmas, in dem sich viele Beschäftigte und Betriebsräte heute befinden:
„Wir haben seit 2009 jetzt bis 22 Uhr auf. Wir haben aber die Besetzung der Spätöffnung so geregelt, dass keiner gezwungen wird, bis 22.00 Uhr zu arbeiten, weil wir gesagt haben, wir haben auch wirklich genug Alleinerziehende. Und wenn die Kinder haben, die älter als 10 Jahre sind, dann gibt der Tarifvertrag da nichts mehr her und wir können die nicht schützen. Die Mütter müssten dann bis 22 Uhr kommen und ihre Kinder hängen dann mit 12 oder 13 Jahren bis 22 Uhr auf der Straße. Deshalb haben wir die verlängerten Öffnungszeiten nur mit der Freiwilligkeit vereinbart. Dadurch haben wir uns natürlich auch Leiharbeiter ins Haus geholt. Das war halt die bittere Pille, die wir schlucken mussten.“ (Mitarbeiterin eines SB-Warenhauses)
In welchem Ausmaß im Einzelhandel mittlerweile Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter eingesetzt oder Werkverträge vergeben werden, ist statistisch nicht zu erfassen. Abbildung 3 zeigt daher nur einen Ausschnitt des Prekarisierungsprozesses, der durch die Liberalisierung des Ladenschlussgesetzes angestoßen wurde. Die Interviews mit den Betriebsräten weisen aber auf ein weiteres, nur schwer messbares Problem hin: In einigen Fällen ist es gerade durch den verstärkten Einsatz von Leiharbeitern oder Werkverträgen sukzessive zu einem Abbau der Stammbelegschaft gekommen. In einem Fall ist der Abbau so stark gewesen, dass er eine Verkleinerung und Schwächung des Betriebsrates zur Folge hatte. Dies verdeutlicht, dass die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse auch jenseits der messbaren Datenlage zu einer schleichenden Erosion der Arbeitsbedingungen beiträgt, denn je schwächer der Betriebsrat wird, desto schwieriger wird es, die Interessen der Belegschaft durchzusetzen.
Befürworter der verlängerten Ladenöffnungszeiten berufen sich angesichts dieser Entwicklungen häufig darauf, dass es dem Einzelhandel freigestellt ist, ob und in welchem Ausmaß er von der Regelung Gebrauch macht. Diese Freiwilligkeit ist allerdings mehr als relativ, denn um attraktiv für die Kunden zu sein, ergänzen die Einzelhändler den Preiswettbewerb um einen Wettbewerb hinsichtlich möglichst langer Öffnungszeiten. So wollen sie sich im Kampf um Umsätze und Marktanteile einen Vorteil verschaffen. Aber dort, wo es Vorreiter gibt, gibt es auch Nachahmer. Damit wird das Umsatzplus, das die Vorreiter noch für sich verbuchen können, schnell zur Kostenfalle für alle. Die Gespräche mit den Einzelhandelsbeschäftigten lassen vermuten, dass es sich selten lohnt, die Geschäfte bis 22.00 Uhr zu öffnen. Ein Aussteigen ist aber häufig aus wettbewerblichen Gründen nicht mehr drin.
„Das Ladenschlussgesetz wird für eine Verdrängung benutzt. Es ist ein Kampf untereinander, um Anteile. Es ist eine Verschiebung, aber keine Generierung von mehr Umsatz. Natürlich bist du dann auch bei den Kosten. Andere haben eben nicht die Kosten wie wir, wenn wir tarifvertraggebunden sind. Und wir müssen eben gucken, dass wir uns mit dieser Gebundenheit am Markt bewegen. Und andere machen, was sie wollen. Weil sie eben diese Gebundenheit nicht haben. Das schiebt uns immer mehr in diese blöde Kostendebatte.“ (Mitarbeiterin eines Warenhauses)
Die Folge ist, dass auch immer mehr tarifgebundene Betriebe nach Möglichkeiten suchen, ihre Personalkosten zu senken oder flexibler zu gestalten. Teilweise wird auf das Instrument der Provision zurückgegriffen. Manche Märkte nehmen aber auch die tariflichen Eingruppierungen neu unter die Lupe – immer mit dem Hintergedanken, hierdurch die Personalkosten senken zu können.
Wie stark sich der Druck auf die Löhne im Einzelhandel durch die verlängerten Öffnungszeiten erhöht hat, haben die Arbeitgeberverbände erst kürzlich belegt: Außer in Hamburg haben sie in ganz Deutschland alle Entgelt- und Manteltarifverträge gekündigt – vor allem mit dem Ziel, die Spätzuschläge streichen zu wollen. Damit geraten die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten erneut erheblich unter Druck und es besteht die Gefahr, dass dieser Entwicklung weitere existenzsichernde Arbeitsplätze zum Opfer fallen.
Was ist zu tun?
- Das Ladenschlussgesetz, es gibt Spielraum nach unten: Durch die Freigabe der Ladenöffnungszeiten an Werktagen hat sich der Wettbewerbsdruck im Einzelhandel zwar erhöht, zu einer Umsatzsteigerung trägt sie allerdings nicht bei. Deshalb wird von vielen Einzelhändlern der Druck auf die Personalkosten erhöht. Damit sich dieser Prozess nicht weiter fortsetzt, sollte die Politik eine erneute Einschränkung der Ladenschlusszeiten an Werktagen in Erwägung ziehen. Es gibt durchaus Bundesländer, die nicht den Weg der völligen Freigabe der Ladenöffnungszeiten beschreiten, an denen sich Bremen orientieren könnte. Außer in Bayern gelten auch im Saarland noch moderate Öffnungszeiten. In beiden Bundesländern dürfen Verkaufsstellen an Werktagen von 6.00 bis 20.00 Uhr geöffnet sein. In Rheinland-Pfalz sind die Ladenöffnungszeiten werktags zumindest auf 6.00 bis 22.00 Uhr beschränkt.
- Anpassung des Arbeitszeitgesetzes: Sofern es nicht gelingt, von den längeren Ladenöffnungszeiten abzurücken, ist eine entsprechende Modifizierung des Arbeitszeitgesetzes erforderlich. Nach der derzeitigen Regelung haben Nachtarbeitnehmer und Nachtarbeitnehmerinnen nur dann das Recht, auf einen Tagesarbeitsplatz versetzt zu werden, wenn er oder sie ein Kind hat, das jünger als 12 Jahre ist und nicht von einer anderen im Haushalt lebenden Person betreut werden kann. Hinzu kommt, dass diese Regelung erst ab 23.00 Uhr zum Tragen kommt. Wünschenswert wäre es, das Gesetz dahingehend zu ändern, dass erstens die Regelungen zur Nachtarbeit nicht erst ab 23.00 Uhr, sondern bereits ab 20.00 Uhr greifen, und zweitens das Alter der zu versorgenden Kinder von 12 auf mindestens 14 Jahre angehoben wird. Durch eine derartige Überarbeitung des Arbeitszeitgesetzes wären auch solche Beschäftigten geschützt, die nicht in tarifgebundenen Betrieben arbeiten.
- Qualitätssiegel für den Einzelhandel gegen die „Servicewüste Deutschland“: Um die Arbeitsbedingungen im Einzelhandel grundsätzlich verbessern zu können, ist es notwendig, die Konsumentinnen und Konsumenten für dieses Thema zu sensibilisieren. Dies ist möglich, indem Einzelhändler, die miese Geschäftspraktiken betreiben, an den Pranger gestellt werden. Es funktioniert aber auch umgekehrt: In dem die Märkte ausgezeichnet werden, die für besonders gute Arbeitsbedingungen sorgen. Ver.di in Hamburg hat diesen Ansatz weiter verfolgt und im Rahmen der bundesweit einzigartigen Einzelhandels-Kampagne „Handeln ausgezeichnet“ ein Qualitätssiegel für den Einzelhandel eingeführt. Hier werden Unternehmen dafür belohnt, dass sie ihre Beschäftigten nach Tarif bezahlen, ausbilden und organisiert sind. Sind diese Kriterien erfüllt, wird der entsprechende Betrieb außerdem in einem „Einkaufsführer für faire Arbeit in Hamburg“ aufgenommen, an dem sich der Kunde bei seinen Einkaufsgewohnheiten orientieren kann, ob er tarifgebundene Betriebe fördert oder den „Wildwuchs“. Auch andere Bundesländer sollten über so eine Auszeichnung nachdenken, denn auf diesem Weg rückt das Thema „Arbeitsbedingungen im Einzelhandel“ stärker in das Bewusstsein der Kundinnen und Kunden.
- Keine Umsatzsteigerungen ohne höhere Einkommen: Der Einzelhandel ist eine Branche, die zu ruinösem Wettbewerb neigt, der auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen wird. Jede Maßnahme, die diesen Wettbewerb verschärft, führt nur dazu, dass sich der Druck auf die Löhne erhöht, wenn sie nicht von einer deutlichen Erhöhung der Kaufkraft begleitet wird. Da die Einkommensentwicklung der entscheidende Einflussfaktor bei der Branchenentwicklung ist, stellt sich der Einzelhandel selbst ein Bein, wenn er sich mehr und mehr zur Niedriglohnbranche entwickelt. Alle Maßnahmen, die dafür Sorge tragen, dass sich die Einkommenssituation insgesamt verbessert, verbessern damit auch die Rahmenbedingungen für den Einzelhandel. Folglich bietet sich hier eine ganze Palette an regulierenden Maßnahmen an. Notwendig wäre zunächst die Re-Regulierung der Minijobs, die allerdings aufgrund der gegenwärtigen Regierungskonstellation wohl kaum realistisch zu sein scheint. Im Gegenteil: Erst kürzlich haben Union und FDP die Verdienstgrenze für Minijobber auf 450 Euro angehoben. Die Einführung der Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge oder eines Branchen-Mindestlohns würden ebenfalls ein Lohndumping zumindest begrenzen. Allerdings geht auch hier der Trend aktuell in eine vollkommen andere Richtung.
Dieser Artikel erschien zuerst in WISO-Info 2 (2013).
Marion Salot ist Referentin für regionale Strukturpolitik bei der Arbeitnehmerkammer Bremen.