Tim Engartner: "Betriebswirtschaftliche Rechnungen über politische Ziele gestellt"
20. April 2017 | Patrick Schreiner
Tim Engartner über zurückliegende und bevorstehende Privatisierungen in Deutschland. Engartner ist Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität Frankfurt am Main. Im vergangenen Jahr hat er ein Buch zum Thema veröffentlicht.
Wirtschaften Private effizienter?
Tim Engartner: Tatsächlich sind private Unternehmen häufig effizienter, weil sie beispielsweise kürzere Planungs- und Entscheidungswege haben. Ich wehre mich nur dagegen, wenn der Staat für Fehler kritisiert wird, die faktisch von Privatunternehmen zu verantworten sind. Ein Beispiel ist der Bau der Elbphilharmonie. Sollte der Bau die Stadt ursprünglich 77 Millionen Euro kosten, schnellten die Kosten auf zuletzt knapp 800 Millionen Euro in die Höhe. Ein wesentlicher Grund für die Verzehnfachung der Kosten: Private Investoren sprangen ab, weil die Kosten explodierten. Die Verträge erlaubten ihnen das. Deshalb musste die Stadt als Schuldnerin auch für diese abgesprungenen Privatinvestoren einspringen. Allgemein gilt, dass allzu häufig auf die betriebswirtschaftliche und nicht auf die volkswirtschaftliche Effizienz geschaut wird, das heißt immer dann, wenn der Staat die Entscheidungs- und Handlungshoheit auf Privatunternehmen überträgt, werden rein betriebswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Rechnungen über volkswirtschaftliche oder langfristige politische Ziele gestellt. So werden zum Beispiel die Negativfolgen der privatisierten Bundespost politisch und medial tabuisiert. Zwar steht die Deutsche Telekom AG zwei Jahrzehnte nach ihrer Kapitalprivatisierung nach den in der Konzernbilanz ausgewiesenen Größen nicht schlecht(er) da als zuvor. Aber während wir als Kunden der Deutschen Telekom und konkurrierender Anbieter wie Base, O2 und Vodafone infolge der Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes von insgesamt gesunkenen Tarifen profitieren, zahlen wir über Steuern und Sozialversicherungsabgaben für den Stellenabbau, die Pensionslasten und die Ausgründung der Beschäftigten in Personalserviceagenturen wie Vivento. Die auch in vielen Tages- und Wochenzeitungen wiederholte Formel „Telefonieren ist in den letzten Jahren billiger geworden“ ist also schlicht falsch. In der Gesamtschau stehen Telefonkunden, die als sozialversicherungspflichtig Beschäftigte Steuern zahlen, schlechter dar. Auch ein näherer Blick auf die ebenfalls aus der Deutschen Bundespost hervorgegangene Deutsche Post AG lässt Zweifel an der allseits beschworenen Effizienz aufkommen. So wird der Bund bis 2076 ca. 500 Mrd. Euro Witwen-, Waisen- und sonstige Renten für die ehemaligen Beamten des „Gelben Riesen“ zahlen. Der inzwischen weltweit größte Logistikkonzern wird somit trotz milliardenschwerer Gewinne derzeit mit rund 7 Mrd. Euro pro Jahr subventioniert. Und während dem „schlanken“ Staat das Wort geredet wird, beklagen wir die Schließung von Postfilialen, die Demontage von Briefkästen, die Ausdünnung der Zustellungsintervalle bei Privathaushalten und die Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse im Postsektor. Wir bemerken insbesondere während der Weihnachtszeit, dass immer häufiger Mini- und Midi-Jobber oder Kurz-, Zeit- und Leiharbeiter Briefe oder Pakete zustellen.
Derzeit diskutieren die Abgeordneten im Bundestag das Vorhaben von Bundesregierung und Ministerpräsidenten, eine zentralisierte Bundesfernstraßengesellschaft zu gründen. Immer wieder hört man, das Thema Privatisierung sei dabei vom Tisch. Ist es das tatsächlich?
Tim Engartner: Allen Unkenrufen der Branchenverbände, allen Beteuerungen der SPD und allen Pressemeldungen etablierter Medien zum Trotz bahnt die Bundesregierung der Privatisierung der Autobahnen weiterhin den Weg, indem sie den privaten Aus- und Neubaus von Autobahnen sowie deren Finanzierung durch Privatunternehmen weiter vorantreibt. Damit wird die von großkoalitionärer „Ökonomisierungseuphorie“ getragene „Entstaatlichung des Staates“ nun bald auch am fast 13.000 Kilometer messenden Autobahnnetz zu beobachten sein. Beinahe unbeobachtet von der Öffentlichkeit hat die Bundesregierung am 14. Dezember die Änderung des Grundgesetzes inklusive der dazugehörigen Begleitgesetze im Kontext einer tiefgreifenden Förderalismusreform beschlossen. Zwar wurde die Abstimmung im Parlament aufgeschoben, aber die Privatisierung der Bundesfernstraßen ist nicht nur absolut erwartbar, sondern wird längst praktiziert, und zwar durch öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP). Bei ÖPPs finanzieren, bauen, erhalten und betreiben Privatunternehmen Abschnitte von Autobahnen für zumeist 30 Jahre und erhalten dafür im Gegenzug eine feste jährliche Vergütung. Schon heute gibt es auf 3,6 Prozent der Autobahnstrecken derartige ÖPPs. Nach heutigem Stand müssten 16 Landesparlamente und der Bundestag zustimmen, wenn ÖPPs flächendeckend eingesetzt werden sollen. Nach der nun angebahnten Grundgesetzänderung kann dies der Vorstand der neuen Autobahn-GmbH entscheiden – quasi autonom und ohne demokratische Kontrolle. Zusätzlich zu ÖPPs werden mit der vom Bundeskabinett beschlossenen Grundgesetzänderung noch weitere Privatisierungsformen ermöglicht, so zum Beispiel stille Beteiligungen, Genussscheine, Anleihen oder sonstige Kapitalmarktkredite. Dies alles sind ausgesprochen kostspielige Verschuldungsformen, die den Kapitalgebern zugleich erhebliche Mitspracherechte einräumen. Der Verkauf von Tochtergesellschaften soll zwar ausgeschlossen werden – allerdings nicht grundgesetzlich, so dass eine künftige Regierung auch dazu kommen könnte, nur eine „schlanke“ Holding zu behalten und den Rest zu verkaufen. Somit hat die Bundesregierung ein Projekt angebahnt, das für die Bürger keinen erkennbaren Nutzen bringt, stattdessen aber mit zahlreichen Risiken und Nachteilen behaftet ist. Die Bundesregierung mag dieses gigantische Privatisierungsvorhaben trickreich aufs Gleis gesetzt haben. Die Abgeordneten jedoch, die in den Parlamenten für das Projekt stimmen, werden den Menschen ein Leben lang als Autobahnprivatisierer im Gedächtnis bleiben. Im „Land der Autofahrer“ sollten sich die Parlamentarier dies gründlich überlegen. Das kollektive Gedächtnis der Autofahrernation Nr. 1 dürfte so schnell nicht vergessen.
Wenn über Privatisierungen gesprochen oder geschrieben wird, dann meist über Dienstleistungen bzw. Daseinsvorsorge. Die Privatisierungen in der Industrie der 1980er Jahre kommen kaum zur Sprache. Auch in Ihrem Buch kaum. Woran liegt das?
Tim Engartner: In der Tat habe ich mich auf aktuelle Entwicklungen konzentriert, so dass die Privatisierung der Industrie – Volkswagen sowie VEBA und VIAG, die nun unter E.ON firmieren, wären prominente Beispiele – nicht umfänglich zur Sprache kommt. Hinzu kommt, dass die Privatisierungen in der Industrie nicht mehr als wirklich diskussionswürdig zur Kenntnis genommen werden, seitdem Margaret Thatcher in Großbritannien kaum ein Staatsunternehmen unangetastet ließ. Während ihrer Amtszeit zwischen 1979 und 1990 privatisierte die „Eiserne Lady“ British Petroleum (1979), British Aerospace (1981), Cable and Wireless (1981), British Telecom (1982), Britoil (1985), British Airways (1987), Rolls-Royce (1987), British Steel (1988) und Thames Water (1989). Allein zwischen 1984 und 1991 wurde ein Drittel der weltweiten Privatisierungserlöse in Großbritannien erzielt. Beinahe eine Million Beschäftigungsverhältnisse wurden während dieses Zeitraums vom öffentlichen in den privaten Sektor überführt. Von da an galt der anglo-amerikanische Ansatz des privatwirtschaftlich gesteuerten Unternehmenssektors weltweit als geradezu „alternativlos“.
Zum Weiterlesen:
Tim Engartner 2016: Staat im Ausverkauf. Privatisierung in Deutschland. 268 Seiten, ISBN 978-3-593-50612-8, 22,95 Euro.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.