Türkei: Proteste für Bildung und Menschenrechte
6. Februar 2020 | Birgit Koch, Cetin Mogultay
Erstmals seit Jahren hatte die türkische Bildungsgewerkschaft EĞITIM-SEN wieder zu einer öffentlichen Protestkundgebung nach Ankara aufgerufen. Sie wehrt sich gegen unrechtmäßige Entlassungen, einen eklatanten Mangel an Lehrkräften und Privatisierungen von Schulen.
Unter dem Slogan »Unsere Rechte, unsere Zukunft und ein Recht auf Bildung für unsere Schüler*innen« hatte die türkische Bildungsgewerkschaft EĞITIM-SEN für den 23. November 2019 Beschäftigte aus Grundschulen, Sekundarschulen und Hochschulen sowie Schülerinnen und Schüler, Eltern und alle Bürgerinnen und Bürger zu einer landesweiten Aktion gegen die Bildungspolitik der AKP-Regierung unter Präsident Erdogan aufgerufen. Mit der Kundgebung wagte die Gewerkschaft einen in der demokratischen Opposition lange erwarteten Schritt: Öffentlichen Protest! »Es kamen über 5.000 Menschen. Ein großer Erfolg für EĞITIM-SEN, deren Mitglieder und Führungspersonal von Repressionen bedroht sind«, berichtet Cetin Mogultay von der deutschen Bildungsgewerkschaft GEW. »Unter den Teilnehmenden waren auch viele, die aus politischen Gründen ihre Arbeitsstellen verloren hatten und für die Wiedereinstellung kämpften.«
Vorstandsmitglieder der EĞITIM-SEN waren seit Wochen in den Gliederungen der Gewerkschaft und in den Schulen der Türkei unterwegs, um in direkten Gesprächen möglichst viele Kolleginnen und Kollegen zu ermutigen und für die erste landesweite Aktion seit vier Jahren nach Ankara zu mobilisieren. Dies haben sie trotz vieler Schwierigkeiten geschafft. Aus allen Regionen der Türkei waren Mitglieder dem Aufruf ihrer Gewerkschaft in die Hauptstadt gefolgt, um sich auf dem traditionsreichen Tandogan-Platz zu versammeln. Bis zuletzt hatte die Stadtverwaltung von Ankara die Genehmigung für die Veranstaltung verzögert. Die Zusage wurde erst am 22.11. spät nachmittags unter der Auflage erteilt, dass nur eine Kundgebung und kein Demonstrationszug stattfinden darf.
Die Angst der Menschen in der Türkei, an öffentlichen Massenkundgebungen teilzunehmen, ist seit dem 10. Oktober 2015 nicht überwunden. Damals hatten 103 Menschen bei einem Terroranschlag auf eine friedliche Kundgebung in der Nähe des Hauptbahnhofs von Ankara ihr Leben verloren, darunter auch mehrere EĞITIM-SEN-Mitglieder. Doch die Menschen haben nicht nur Angst um ihr Leben. Sie müssen auch jederzeit damit rechnen, durch über Nacht geschaffene Notverordnungen ihre Stelle zu verlieren, verhaftet und strafrechtlich verfolgt oder in eine abgelegene Region zwangsversetzt zu werden.
Worum ging es bei der Aktion?
1. Seit dem gescheiterten Putschversuch im Sommer 2016 sind über 100.000 Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst der Türkei durch Notverordnungen suspendiert oder entlassen worden, davon über 45.000 Lehrerinnen und Lehrer. Darunter befinden sich 4.300 Mitglieder von Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes, die bei der Dachorganisation KESK organsiert sind. 1.600 davon sind EĞITIM-SEN-Mitglieder, davon 300 Frauen. Sie alle wollen ihre Arbeitsstellen zurückbekommen und kämpfen darum mit Unterstützung der Gewerkschaft. Gegen viele wurden Strafverfahren mit erfundenen Anklageschriften eingeleitet. Sie dürfen nicht mehr im öffentlichen Dienst beschäftigt werden.
2. Nach Angaben des türkischen Schulministeriums fehlen in den öffentlichen Schulen 70.000 bis 100.000 Lehrkräfte. Die Stellen werden nicht besetzt, weil der Etat für Bildung von Jahr zu Jahr gekürzt wird, während das Budget für Militärausgaben enorm erhöht wurde. Demgegenüber stehen ca. 700.000 ausgebildete Lehrkräfte dem Arbeitsmarkt zur Verfügung, die aufgrund ihrer politischen Orientierung, religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit nicht eingestellt werden. Sie müssen ihren Lebensunterhalt in anderen Bereichen bestreiten.
3. Die Mittel für Bildung und Erziehung sind in der Türkei immer weiter heruntergefahren worden. Während im Jahre 2002 noch 17 Prozent des Gesamtetats dafür ausgegeben wurden, waren im Haushalt 2018 nur noch acht Prozent für Bildung geplant. Diese Talfahrt wird 2020 fortgesetzt, obwohl das Land mehr Lehrerinnen und Lehrer, Investitionen in Schulgebäude und höhere Etats für die Schulen benötigt. Trotz der offenen Lehrerstellen und einer hohen Anzahl an ausgebildeten Lehrkräften, die auf Einstellung warten, nimmt die Zahl der befristet beschäftigten Honorarlehrkräfte, die ohne jegliche soziale Sicherung für Hungerlöhne arbeiten, rapide zu.
4. 35 Prozent der ehemals staatlichen Schulen in der Türkei sind inzwischen privatisiert. Träger sind religiös orientierte Stiftungen und Sekten, die der Regierungspartei AKP nahe stehen und mit staatlichen Mitteln gefördert werden. Die Vermittlung religiöser Inhalte und der arabischen Sprache stehen im Vordergrund, viele Gymnasien und Realschulen sind in Predigerschulen (Imam-Hatip-Schulen) umgewandelt worden. Viele Eltern weigern sich, ihre Kinder in diese religiöse Schulen zu schicken, an denen ihre Kinder einer rigorosen Gehirnwäsche unterzogen werden. Schülerinnen und Schüler müssen oft weite Wege in Kauf nehmen, wenn sie auf den Besuch einer staatlichen Schule bestehen und die Predigerschulen ablehnen.
5. Der Wertverlust der türkischen Lira und damit der Verlust der Kaufkraft trifft auch die Lehrkräfte. Durch die andauernde Wirtschaftskrise sind die Lehrerentgelte in den letzten zehn Jahren um fünfzig Prozent gesunken. So hat eine Lehrkraft in der Türkei vor 10 Jahren umgerechnet etwa 800 Euro verdient. Heute erhält sie nur noch die Hälfte.
Links:
▸Turkey: 5000 join EÄžITIM-SEN’s open air meeting for rights and education (ETUCE, 27.11.2019)
▸Freiheitsrechte in der Türkei (GEW, 11.3.2019)
▸Gerichtsverhandlung in Ankara: Protokoll eines Prozesses (GEW, 7.2.2017)
Birgit Koch ist Vorsitzende der GEW Hessen.
Cetin Mogultay ist Mitglied der Bildungsgewerkschaft GEW.