Utopie und Populismus
19. April 2018 | David F. Ruccio
Es wurde viel gesagt über den Aufstieg des Populismus in den letzten Jahren und über die damit verbundene Bedrohung der liberalen Demokratie. Ich bin der Meinung, dass liberale Kritiker des Populismus das Problem nicht wirklich erfassen. Denn Populismus bedeutet das Scheitern der liberalen Demokratie.
Der Populismus erlebte jüngst ein Wiederaufleben, in Ungarn, Großbritannien, Frankreich, der Türkei, den Vereinigten Staaten und anderswo, und zwar besonders in jener Form, die als rechtsgerichtet, nationalistisch oder autoritär bezeichnet wird. Sie hat immer mehr Unterstützung gefunden und innerhalb der Institutionen und Verfahren der liberalen Demokratie beachtliche politische Siege erzielt.
Das Problem ist, dass die liberale Demokratie es versäumt hat, die Verwerfungen anzugehen, die zum Aufkommen des Populismus geführt haben, geschweige denn sie zu lösen.
Nehmen wir zum Beispiel die Geschichte des Populismus in den Vereinigten Staaten.(1) Die drei relevanten Zeitspannen - das späte 19. Jahrhundert (mit dem Aufstieg der ▸People's Party, die auch als Populist Party bekannt war), die erste Große Depression (rund um solche politischen Figuren wie ▸Pater Charles Coughlin und ▸Huey P. Long ), und dann die zweite Große Depression (beginnend mit der Tea Party und schließlich in die Wahl von Donald Trump mündend) - all diese Phasen fielen mit obszönen Ausmaßen sozialer Ungleichheit und mit schweren Wirtschaftskrisen zusammen. Sie trafen amerikanische Arbeiter und andere Klassen (einschließlich Bauern und Kleinunternehmen) im ganzen Land massiv.
Populismus war eine der wesentlichsten Antworten auf die komplexen und sich verändernden Formen von Unzufriedenheit und Ressentiments, die die Ideen und Politiken der führenden politischen Parteien, wirtschaftlichen Eliten und Mainstream-Intellektuellen innerhalb der amerikanischen Demokratie zuerst hervorgebracht und dann nicht beantwortet haben. Wie ▸ich im November letzten Jahres geschrieben habe:
Das Paradoxe der Präsidentschaftswahl 2016 besteht darin, dass Donald Trump und Hilary Clinton behaupten, von Teilen der US-Arbeiterschaft unterstützt zu werden (oder sie werden in den Medien zumindest entsprechend wahrgenommen). Und doch bietet keine der beiden Kampagnen konkrete Politiken oder Strategien, die tatsächlich auf die Themen und Probleme antworten, denen sich die Mitglieder der Arbeiterklasse gegenübersehen.
Es ist also kein Wunder, dass im Laufe der letzten anderthalb Jahre amerikanische Arbeiter die Politik des Establishments abgelehnt haben, wie sie sowohl von Demokraten als auch von Republikanern angeboten wird, und entsprechend in großer Zahl für Bernie Sanders und Donald Trump gestimmt haben. Sie haben einfach die Nase voll von einem Wirtschaftssystem, das so zurechtgebastelt wurde, dass es nur einer kleinen Gruppe an der Spitze zugute kommt. Und sie sind frustriert von einer Reihe politischer Kandidaten (ganz zu schweigen von Ökonomen und Wirtschaftsexperten), die grundlegende Veränderungen für unerwünscht und unrealistisch erklären. Besser den Kurs beibehalten, so predigen die Eliten, und am Ende wird die ▸Trickle-Down-Ökonomie schon funktionieren.
Eine andere Antwort als der rechte Populismus wäre natürlich in allen drei historischen Phasen möglich gewesen. Statt Populismus hätten benachteiligte Klassen in den Vereinigten Staaten von einer utopischen Bewegung überzeugt und zu einer solchen vereinigt werden können - einer Vereinigung, Organisation oder politischen Partei, die eine Kritik der bestehenden Ordnung, einschließlich einer Kritik der Eliten, die diese Ordnung verteidigen, mit einer politischen Programmatik kombiniert, die darauf abzielt, wirtschaftliche und soziale Institutionen radikal in eine fortschrittliche Richtung zu verändern.(2)
Sowohl Rechtspopulismus als auch linke utopische Bewegungen sehen das bestehende System als »manipuliert« an - »manipuliert« gegen die überwiegende Mehrheit der Menschen. Und beide erheben Vorwürfe gegen »Eliten«, die von dem bestehenden System profitieren und es verteidigen. Beide Antworten stellen somit ein Scheitern der liberalen Demokratie dar.
Aber beide Reaktionen sind alles andere als einander ähnlich, auch wenn beide versuchen, die Missstände der Arbeiter und anderer Klassen zu thematisieren, die zurückgelassen wurden.
Es gibt, wie mir scheint, zwei wesentliche Unterschiede zwischen rechtspopulistischen und linken utopischen Bewegungen. Erstens gehen sie die Frage von Bündnis und Opposition ganz anders an. Utopische Bewegungen identifizieren einen grundlegenden Konflikt zwischen dem Volk und einer Elite. Sie stellen den Anspruch der Eliten auf Universalität in Frage - um hiervon ausgehend eine andere Universalität zu entwickeln und eine Reihe von Veränderungen herbeizuführen, die eine neue Menschlichkeit und Freiheiten für alle schaffen. Die bestehenden Eliten eingeschlossen. Rechtspopulisten verfolgen, wie ▸John Judis erklärt, einen radikal anderen Ansatz.
Sie positionieren sich für die Menschen und gegen eine Elite, die sie beschuldigen, eine dritte Gruppe zu bevorzugen, die beispielsweise aus Immigranten, Islamisten oder afroamerikanischen Militanten bestehen kann. Rechtspopulismus ist triadisch: Er blickt nach oben, aber auch nach unten auf eine auszugrenzende Gruppe.
Der zweite große Unterschied besteht darin, dass Rechtspopulisten rückwärts blicken, eine Zeit beschwören und eine Rückkehr dorthin versprechen, die als besser empfunden wird. Für Trump sind die 1950er Jahre diese Zeit, als ein viel größerer Teil der Arbeiter im verarbeitenden Gewerbe beschäftigt war, die amerikanische Industrie erfolgreich gegen Unternehmen in anderen Ländern konkurrierte und die Wall Street für die US-Wirtschaft eine viel kleinere Rolle spielte.(3)
Diese Zeit war natürlich außergewöhnlich - sowohl in Bezug auf die Geschichte der USA als auch auf die Weltgeschichte. Und es ist eine Vision, die bequem viele andere Aspekte dieser verlorenen Zeit ausblendet, wie die Ausbeutung von Arbeitern, rassistische Hierarchien und das weit verbreitete Patriarchat innerhalb und außerhalb der Haushalte.
Statt zurückzublicken, sehen linke utopische Bewegungen nach vorne. Sie kritisieren die bestehende Ordnung, verstehen aber auch, dass sie einige der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen für eine bessere, gerechtere Gesellschaft schafft.
Liberale Kritiker des Populismus verstehen weder ihre eigene Verantwortung für die Umstände, unter denen Populismus entstanden ist, noch verstehen sie die Ungerechtigkeitsempfindungen, vor allem von Klassenungerechtigkeiten, die der wachsenden Stärke des Populismus zu Grunde liegen.
Die Linke sollte da besser sein - und zwar sowohl bei der Analyse des Aufstiegs des Populismus als einem Versagen der liberalen Demokratie als auch bei der Entwicklung einer utopischen Alternative zum Bestehenden. Aber dafür muss sie über die Feststellung hinausgehen, dass nur der Populismus eine Bedrohung für die liberale Demokratie darstellt.
Wenn die liberale Demokratie bedroht ist, dann aufgrund ihres eigenen Versagens.
Anmerkungen
(1) Im ▸englischsprachigen Originaltext wird hier eine ▸Grafik gezeigt, die die Vermögensanteile der Top-Zehn-Prozent und des Top-Einen-Prozents darstellt. Sie stammt von Richard Sutch, »The One Percent across Two Centuries: A Replication of Thomas Piketty's Data on the Concentration of Wealth in the United States«, Social Science History 41 (Winter 2017): 587-613.
(2) Eine solche Bewegung, der »Thunder from the left«, hat in der Tat während der ersten Großen Depression an Stärke gewonnen, was dann 1935 zum zweiten New Deal führte (nach den Zwischenwahlen von 1934 und vor Franklin Delano Roosevelts zweitem Wahlkampf von 1936).
(3) ▸Joshua Zeitz argumentiert, dass die Populisten des späten 19. Jahrhunderts auch rückwärts geblickt haben und die Parallelen zwischen damals und heute auffallend sind: »Gewöhnliche Bürger störten sich an wachsender wirtschaftlicher Ungleichheit und identifizierten mächtige Interessen - Eisenbahnen, Banken, Finanzspekulanten -, die die Hebel der Macht zu kontrollieren schienen. Viele kamen zu dem Schluss, dass die beiden großen politischen Parteien trotz gewisser Differenzen grundsätzlich die genannten Interessen bedienten und wenig auf die Sorgen der Bevölkerung reagierten.«
Dieser Artikel erschien zuerst in englischer Sprache auf dem ▸Blog des Autors. Wir danken für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung. Ãœbersetzung: Patrick Schreiner.
David F. Ruccio ist ein US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler.