Vom Irrationalismus des Marktes zum Irrationalismus des Lebens im Neoliberalismus
4. Juni 2020 | Patrick Schreiner
Wird in Medien, Politik und Öffentlichkeit von »Neoliberalismus« gesprochen, so ist damit zumeist ein Bündel wirtschafts- und sozialpolitischer Überzeugungen und Maßnahmen gemeint. Mehr Markt und weniger Markteingriffe, so der Kern dieses Denkens, dessen Irrationalismus aber sehr viel weiter greift.
Mehr Markt und weniger Markteingriffe, so der Kern dieses Denkens, aus dem dann »Reformen« wie etwa Lohnkürzungen, Arbeitsmarkt-Flexibilisierungen, Sozialabbau oder Steuersenkungen für hohe Einkommen und Gewinne abgeleitet werden. »Neoliberalismus« in dieser Weise zu verstehen, ist angemessen – und doch unvollständig. Denn die beschriebene Perspektive lässt außer Acht, dass Neoliberalismus mehr ist als Wirtschafts- und Sozialpolitik, als soziale Ungleichheit und Marktextremismus: Neoliberalismus geht mit einem Bild von Mensch und Gesellschaft einher, welches das Denken und Handeln der Menschen noch im banalsten Alltag prägt. Er ist immer auch eine ganz bestimmte Art und Weise, sein Leben zu führen. Der Neoliberalismus, so die These dieses Artikels, konnte die Gesellschaft und Politik in quasi allen Ländern gerade deshalb so hartnäckig und erfolgreich nach seinen Vorstellungen umwälzen, weil er an vielen Stellen als harmlos und unpolitisch erscheint – als gesunder Menschenverstand, wenn man so möchte. Dabei zeigt sich ein Irrationalismus, der im Kern ein Irrationalismus gegenüber dem Markt ist. Dies wird im Folgenden am Beispiel einer bestimmten Ratgeber-Literatur aufgezeigt, für die der Begriff der »Lebensberatung« treffend erscheint.
Die nachfolgenden Überlegungen zum »Leben im Neoliberalismus« beruhen auf zwei Buchveröffentlichungen des Autors zum Thema (Schreiner 2018a, Schreiner 2018b) und ergänzen diese.
Der neoliberale Irrationalismus des Marktes
Nicht »die Märkte« in ihrer Vielfalt und jeweiligen Besonderheit stehen im Mittelpunkt neoliberalen Denkens, sondern »der Markt« als abstraktes Konzept und Prinzip. Ihm schreiben die Neoliberalen eigene Gesetzmäßigkeiten zu, sie verstehen ihn als etwas von selbst Ablaufendes, Autonomes, Immergleiches und Überlegenes. Er gilt ihnen als das Gute schlechthin, das sie einem Bösen gegenüberstellen, von dem er beständig bedroht wird: »dem Staat« bzw. »der Politik«. Damit ist ihnen »der Markt« zugleich gesellschaftliches Ideal (im Sinne einer anzustrebenden Utopie), politische Aufgabe (der Markt ist rein zu halten von äußeren Eingriffen) und politisches Instrument (der Markt tritt als Mittel zur Gestaltung und Lenkung von Gesellschaft in weiten Teilen an die Stelle des Staates) (Ötsch/Pühringer 2015; Thomasberger 2009; Ötsch 2011).
Indem er den Markt in dieser abstrakten Weise absolut setzt, entwickelt der Neoliberalismus ein sehr eigenwilliges Verständnis von Freiheit und von Leistung bzw. Gerechtigkeit. Frei ist aus dieser Sicht, wer als Marktakteur in seinem Markthandeln nicht von politischen Eingriffen gelenkt oder auch nur beeinflusst wird. Insbesondere die Wahrung des Privateigentums ist dabei zentral, einschließlich des Privateigentums an Produktionsmitteln. Freiheit ist damit per se eine Kategorie, die nur an und mit Märkten stattfinden kann. Politik oder Demokratie sind nicht nur nicht in der Lage, Freiheit zu verwirklichen. Sie bedrohen gar die Freiheit, weil und wenn sie in Märkte eingreifen (Hayek 1977; Hayek 1981). Unfrei ist folglich nicht, wer etwa wegen geringer Löhne 80 Wochenstunden arbeiten muss, um zu überleben. Unfrei ist nicht, wer sich nur durch Flaschensammeln halbwegs über Wasser halten kann. Unfrei ist, wer durch Sozialleistungen vom Flaschensammeln oder durch Tarifverträge von Niedriglohnarbeit abgehalten wird. Zwang geht per Definition nicht vom Markt aus (Hayek 2005). Dies ist auch der Hintergrund der bekannten Äußerung des neoliberalen Vordenkers Friedrich August von Hayek, dass die persönliche Freiheit in Chile unter dem Diktator Augusto Pinochet größer gewesen sei als unter dem demokratisch gewählten, linken Präsidenten Salvador Allende.
Der neoliberale Begriff der Gerechtigkeit – und damit zusammenhängend der Leistung – ist ähnlich eigenwillig. Entscheidend ist hier der Gedanke, dass Verteilungsergebnisse funktionierender Märkte stets gerecht und jeder anderen Verteilungsvariante überlegen seien. Hayek schreibt:
»Gerechtigkeit befaßt sich nicht mit den Ergebnissen der verschiedenen Transaktionen, sondern nur mit der Frage, ob die Transaktionen selbst fair waren.« (Hayek 1986: 189).
Aus neoliberaler Sicht ist also jede Form von »Belohnung« oder »Bestrafung« durch den Markt gerecht, solange sie nur eben durch den Markt erfolgt und nicht von außen beeinflusst wird. Wer so argumentiert, der hat allerdings ein Problem: Dass Anstrengung und Bemühen sich auch lohnen, ist keineswegs sicher. Ob eine Person viel oder wenig Zeit aufwendet, viel oder wenig Bildung erworben hat, viel oder wenig Kraft aufwendet, konzentriert oder unkonzentriert ist usw. – all dies ist nicht relevant. Entscheidend ist nur, ob der Markt die entsprechenden Mühen belohnt oder nicht. Hayek stellt ausdrücklich klar, dass man seine Erfolgschancen durch Anstrengung zwar erhöhen mag, ein Markt auf individuelle Verdienste und Anstrengungen aber keine Rücksicht nimmt bzw. nehmen kann:
»Aber dieser Erfolg stellte sich ein, weil die Entlohnung der Leistungen der Individuen von objektiven Tatsachen abhing, die niemand alle kennen konnte, und nicht von der Meinung irgend jemandes, was sie erhalten sollten. Dies bedeutete aber auch, daß sie dem einzelnen, obwohl Befähigung und Fleiß die Chancen eines jeden verbessern mögen, kein bestimmtes Einkommen garantieren konnte, und daß der unpersönliche Prozeß, der alle verstreuten Kenntnisse nutzte, die Signale der Preise so setzte, daß den Leuten mitgeteilt wurde, was zu tun ist, keine Rücksicht auf Bedürfnisse und Verdienste nahm.« (Hayek 1977: 31).
Diese Feststellung könnte man zum Anlass für eine marktkritische Haltung nehmen, was Hayek als Neoliberaler natürlich nicht tut. Aber immerhin ist er an diesem Punkt sehr viel realistischer und ehrlicher als all jene in Politik, Medien und Wissenschaft, die allenthalben das falsche Hohelied der Leistung singen, die sich lohne. Diese Ehrlichkeit ist gleichwohl insofern ein riskanter Luxus, als das Hohelied der sich lohnenden Leistung eine – aus neoliberaler Sicht – durchaus folgerichtige Reaktion auf ein objektives Dilemma darstellt. Schließlich wird man den Menschen kaum empfehlen können, nichts zu tun und abzuwarten, ob sie vom Markt belohnt werden oder nicht. So funktionieren Kapitalismus und Gesellschaft nicht. Und eben deshalb erleben wir tagtäglich, wie den Menschen das Mantra von der sich lohnenden Leistung eingetrichtert wird: Man solle sich nur anstrengen, dann habe man auch Erfolg. Dann werde man vom Markt belohnt. Und wenn der Erfolg ausbleibe, dann sei man eben selbst schuld. Arbeitslosigkeit oder Beschäftigung? Krankheit oder Gesundheit? Armut oder Wohlstand? Sie alle liegen – so wird behauptet – in der Verantwortung jedes und jeder Einzelnen.
Auch Hayek hält es für sinnvoll und richtig, wider besseres Wissen die Menschen glauben zu machen, dass Leistung sich lohne:
»Es ist gewiß wichtig in der Marktordnung […], daß die Individuen davon überzeugt sind, daß ihr Wohlergehen primär von ihren eigenen Anstrengungen und Überzeugungen abhängt. Tatsächlich gibt es nur wenige Umstände, die eher dazu geeignet sind, einen Menschen energisch und effizient zu machen, als die Überzeugung, daß es hauptsächlich von ihm selbst abhängt, ob er die Ziele erreicht, die er sich gesetzt hat. Aus diesem Grunde wird diese Überzeugung oft durch Erziehung und die herrschende Meinung ermutigt – wie mir scheint, im allgemeinen sehr zum Vorteil der meisten Mitglieder der Gesellschaft […].« (Hayek 1981: 106-107).
Das ständige moralisierende Raunen von der sich lohnenden Leistung bleibt ganz offensichtlich nicht ohne Widerhall. Tatsächlich verfallen viele Menschen solcherlei Überzeugungen und glauben, dass der Markt Anstrengung und Bemühen belohne. Und konsequenterweise folgen sie dann einer Art neoliberaler Moral, die ihnen entsprechende Handlungsanleitungen gibt: Sei marktkonform! Diszipliniere Dich selbst – nieder mit dem inneren Schweinehund! Sei aktiv! Passe Dich an die Anforderungen von Markt und Gesellschaft an! Setze Dich im Wettbewerb mit anderen durch! Denke unternehmerisch! Oder in Hayeks Worten: Sei »energisch und effizient«!
Ein solches Denken und Handeln ist rational insofern, als es sich strikt an Zwecken und Zielen orientiert. Die Vernunft dient hier nicht dazu, Markt oder Gesellschaft zu verstehen, zu hinterfragen oder gar zu verändern. Stattdessen dient sie dazu, das eigene Verhalten im neoliberalen Kapitalismus zu kontrollieren und zielgerichtet zu lenken, zu optimieren und zu manipulieren. Sie dient der Anpassung. Hayek spricht davon, dass der »Wettbewerb« die Menschen nötige, sich »rational zu verhalten« (Hayek 1981: 108). Es ist ein Sich-rational-Verhalten innerhalb des nicht hinterfragten und nicht hinterfragbaren Rahmens der neoliberalen Marktes.
Mit seiner Selbstbegrenzung ist dieser Rationalismus einem Irrationalismus systematisch untergeordnet: Der irrationalen Überzeugung nämlich, dass die menschliche Vernunft nicht in der Lage sei, die Welt und heutige Gesellschaften zu verstehen oder gar zu verändern. Und der irrationalen, weil nicht begründeten und nicht begründbaren Überzeugung, dass der Markt individuelles Wohlverhalten belohne – dass Leistung sich lohne. Die Vernunft beschränkt sich auf das eigene Denken und Verhalten. Den Markt hinterfragt sie nicht, sie will und darf es nicht. Sie akzeptiert ihn als neutrale und objektive Beurteilungs-Instanz. Der Markt tritt auf kollektiver, gesellschaftlicher Ebene an die Stelle der Vernunft: Nicht der Mensch, sondern der Markt sorgt (vermittelt über Preise) für eine gute und angemessene gesellschaftliche Ordnung. Die Haltung des Menschen gegenüber dem Markt ist passiv, gläubig, fast schon devot. Vermutlich bringt diesen Irrationalismus nichts besser zum Ausdruck als Adam Smiths‘ Formulierung von der unsichtbaren Hand, die von Neoliberalen gerne zitiert wird – die für Smith aber gleichwohl keineswegs die Bedeutung hatte, die manche ihr zuschreiben (Herrmann 2017).
Zu einer solchen Selbstbeschränkung der menschlichen Vernunft fordert Hayek ausdrücklich auf:
»Der Mensch hat sicherlich öfters gelernt, das Richtige zu tun, ohne zu verstehen, warum es richtig war, und auch heute noch sind seine Gewohnheiten ihm häufig dienlicher als das Verstehen. […] Das Gehirn ist ein Organ, das uns befähigt, Kultur aufzunehmen, aber nicht, sie zu entwerfen.« (Hayek 1981: 213-214).
An anderer Stelle schreibt er, dass sich Moral parallel zur Vernunft entwickelt habe und nicht deren Ergebnis sei (Hayek 1996: 6). Gerade weil der Mensch nicht in der Lage sei, Gesellschaft zu verstehen und zu überblicken, habe er sich dem Markt zu unterwerfen. Letzterer wird zu »einer Art Übervernunft« (Ötsch/Pühringer 2015: 17), zu einem zentralen Element einer höheren Ordnung, die der Mensch gleichfalls nicht verstehen, sondern nur akzeptieren kann. (Für Hayek sind diese Ordnung und der Markt Resultate eines langen kulturellen Selektionsprozesses. Solche evolutionistischen Ansätze bilden im neoliberalen Denken eine Minderheit; ein Primat des Marktes gegenüber der menschlichen Vernunft lässt sich gleichwohl auf vielerlei Weise behaupten und begründen.)
Ratgeber-Literatur zwischen Industrie und Esoterik
Der evangelikale US-amerikanische Priester und Autor Norman Vincent Peale ließ die Leserinnen und Leser seines Bestsellers »Die Kraft positiven Denkens« optimistisch wissen:
»Dieses Buch zeigt Ihnen, wie Sie die gegenwärtigen Lebensumstände ändern und verbessern und wie Sie die Kontrolle über die Verhältnisse gewinnen können, anstatt sich von ihnen beherrschen zu lassen.« (Peale 2006: 8).
Was hier auf den ersten Blick wie eine Absage an die Unterordnung unter die herrschenden Verhältnisse erscheint, ist das genaue Gegenteil. Peale beansprucht, Menschen darin anzuleiten, ein besseres Leben zu führen: sich als Persönlichkeit weiterzuentwickeln, Freunde und Anerkennung zu gewinnen, gesünder, reicher, motivierter und erfolgreicher zu werden. Eine positive Lebenseinstellung sei der Schlüssel zu einem solchen besseren Leben – mehr Selbstbewusstsein, eine positivere Grundhaltung, Optimismus und nicht zuletzt Gebet und Glaube an Gott. Der Begriff »Positives Denken«, von Peale in den Titel seines Hauptwerks aufgenommen, drückt diesen Ansatz ganz gut aus. Dahinter steht die Überzeugung, dass zwischen der inneren Haltung eines Menschen und seiner äußeren (sozialen, ökonomischen, körperlichen, persönlichen…) Situation ein enger Zusammenhang besteht: Je positiver die innere Einstellung, desto positiver das Leben.
Diese Herangehensweise beschränkt sich notwendig auf Veränderungen innerhalb der bestehenden Verhältnisse – ja mehr noch: auf Veränderungen ausschließlich des Menschen selbst. Und zwar jedes einzelnen, nicht der Menschheit oder der Gesellschaft als solcher:
»Mein Bekannter hat eine neue Einstellung zu sich selber und zu seinem Leben gefunden. Er wurde gesund, glücklich und frei.« (Peale 2006: 45).
»Glück ist erreichbar, und der Weg dazu ist jedem offen.« (Peale 2006: 83).
Den größten Umfang nehmen bei Peale Erlebnisberichte ein – er schreibt über Personen, denen er angeblich geholfen hat, über positive Beispiele, von denen er lernen konnte, oder über negative Beispiele, die er auf den richtigen Weg brachte. Auffallend viele dieser Personen sind Unternehmer, Kaufleute, Manager oder ähnliches. Peale hat mithin eine positive Einstellung zum Markt. Seine Lebensberatung zielt auch und gerade auf Erfolg am Markt durch Anpassung des Denkens und Handelns von Menschen.
Peale ist ein vergleichsweise früher Vertreter einer Branche, die heute geradezu zu einer Industrie ausgewachsen ist: Mit Lebensberatung im weitesten Sinne zu Themen wie Erfolg, Selbstbewusstsein, Beziehungen oder Motivation erreichen Autorinnen, Autoren, »Speaker« und »Coaches« ein Massenpublikum. Sie vermitteln in Büchern, Vorträgen und Seminaren angebliches Wissen, das den Menschen Wege zu einem vermeintlich glücklicheren Leben aufzeigen soll. Ihre Lehren weisen dabei stets zwei Grundelemente auf: einen individualistischen Ansatz, nach dem Verantwortung und Handlungsmöglichkeiten bei jedem einzelnen Menschen liegen, und einen irrationalen Glauben an eine Art übergeordnete Gerechtigkeit und Ordnung.
Eine jüngere Vertreterin dieser Industrie ist die australische Journalistin und Autorin Rhonda Byrne. Was bei Peale (und vielen anderen) das »Positive Denken« ist, ist bei Byrne (und vielen anderen) das »Gesetz der Anziehung«. Sie schreibt darüber:
»Kraft dieses überaus mächtigen Gesetzes werden Ihre Gedanken zu den Dingen in Ihrem Leben. Ihre Gedanken werden Dinge!« (Byrne 2007: 24).
»Wenn Sie sich in Gedanken intensiv auf Ihre Wünsche konzentrieren, dann rufen Sie in demselben Augenblick mit der mächtigsten Kraft im Universum das herbei, was Sie wollen.« (Byrne 2007: 29).
Jeder Mensch könne also alles erreichen, könne sich alle Wünsche erfüllen – wenn er nur seine Gedanken entsprechend auf die Erfüllung dieser Wünsche konzentriere. Alleine durch das Denken und Wünschen ziehe man Positives – oder eben Negatives – im Leben an. Die Manipulation seiner Gedanken und inneren Einstellung sei daher sinnvoll und notwendig, um Erfolg zu haben. Das Spektrum dessen, was Byrne auf diesem Weg zu erreichen verspricht, ist groß: Geld, Beziehungen, Selbsterkenntnis, Gesundheit und vieles mehr. Die Schnittmengen dieser Überzeugungen mit dem »Positiven Denken« sind offensichtlich; beide haben im Übrigen ihre Wurzeln in der Esoterik des späten 19. Jahrhunderts.
Bei Byrne spielt der Glaube an Gott, anders als bei Peale, keine Rolle mehr. Sie begründet Ihre Lehre vielmehr unter Berufung auf Wissenschaft und Physik (»Quantenphysik«):
»Da Sie Energie sind, schwingen auch Sie auf einer Frequenz, und diese wird von Ihren gegenwärtigen Gefühlen und Gedanken bestimmt. […] Wenn Sie an das denken, was Sie wollen, und diese Frequenz aussenden, bewirken Sie, dass die Energie des Gewünschten auf dieser Frequenz schwingt – und Sie ziehen es an!« (Byrne 2007: 186-187).
Mit so viel irrationalem, pseudo-naturwissenschaftlichem Nonsens hält sich Ilja Grzeskowitz, laut Klappentext immerhin einer von »Deutschlands Top-Speakern«, nicht lange auf. Er beruft sich gleichfalls auf das »Gesetz der Anziehung«, begründet es aber salopper:
»Um das Gesetz der Anziehung umfassend zu erklären, könnte ich jetzt einen langen Ausflug in die spannende Welt der Quantenphysik machen, jedoch ist in diesem Fall gar nicht wichtig, warum es so gut funktioniert, sondern einzig und allein, dass es das tut. Die Welt ist voller lebender Beweise dafür.« (Grzeskowitz 2012: 72).
Gemein haben Peale, Byrne, Grzeskowitz und ihre vielen Kolleginnen und Kollegen, dass sie sich dagegen immunisieren, widerlegt zu werden. Denn ganz gleich, ob als Begründung für »Positives Denken« bzw. »Gesetz der Anziehung« nun Gott oder die Natur herhalten muss oder ob gleich gar nicht begründet wird: Gegenbeispiele lassen sich stets als Verfehlungen der jeweils betroffenen Menschen auszulegen. Wer nicht reich wird, hat dann eben einfach nicht genug an Reichtum gedacht. Wer Probleme im Leben hat, denkt dann eben einfach nicht positiv genug. Und wer krank wird, sollte mehr und besser an seiner inneren Einstellung arbeiten.
Die Schnittmengen dieses Denkens mit neoliberalen Glaubenssätzen sind ebenso evident wie die gemeinsame Immunisierungsstrategie: Jeder Mensch könne alles erreichen, wenn er nur wolle und entsprechend denke und handle. Und wer auf keinen grünen Zweig komme, der habe sich eben einfach nicht genug angestrengt. Hier wird neoliberale Moral verkauft.
Während Peale und Byrne den Eindruck erwecken, das bloße Denken an ein besseres Leben sei ausreichend, kritisiert Grzeskowitz diese Idee. Bloßes Denken und Wünschen genüge nicht, man müsse vielmehr schon auch entsprechend handeln, um Ziele zu erreichen. Man müsse eine »Macher-Mentalität« (Grzeskowitz 2012: 73) entwickeln. Dann aber seien Erfolg und Reichtum wirklich garantiert. Diese Überzeugung kommt schon im Titel seines Buches zum Ausdruck: »Denk Dich reich! Wohlstand ist Einstellungssache«.
Wie bei Peale, so ist auch bei Grzeskowitz »der Unternehmer« eine zentrale Figur. Im übertragenen Sinne gemeint, versteht er darunter all jene Personen, die über angemessene innere Einstellungen und Verhaltensweisen verfügen. So wüssten die Unternehmer, dass es das Geheimnis des Erfolgs sei, einmal mehr aufzustehen als hinzufallen. Und anders als der »Unterlasser«, der sich in seiner »Komfortzone« eingerichtet habe, »packe« der »Unternehmer« tatsächlich »aktiv an«:
»Er wartet nicht darauf, was das Schicksal mit ihm vorhat, sondern bestimmt es durch seinen Tatendrang und seine Handlungen selbst. Er richtet seinen gesamten Fokus auf Chancen und Möglichkeiten, bereit diese zu ergreifen, wenn sie sich ergeben.« (Grzeskowitz 2012: 17).
Peale, Byrne, Grzeskowitz und viele andere lehren Selbstoptimierung, genauer: eine Form der Selbstoptimierung, die auf die richtige innere Einstellung und das richtige Verhalten zielt. Damit lehren sie zugleich das, was Hayek als unzutreffend, aber doch unabdingbar für kapitalistische Gesellschaften beschrieben hat: den Glauben, dass jeder Mensch alles erreichen könne, wenn er nur wolle.
Indem sie mit ihren Ratschlägen auf eine Veränderung des individuellen Menschen abzielen, lassen sie gesellschaftliche und ökonomische Rahmenbedingungen unangetastet. Sie akzeptieren sie – und vermitteln ihren Leserinnen und Lesern, dass nicht die Veränderung von Politik und Gesellschaft, sondern alleine die Selbstveränderung zählt. Der kollektiven Verstehbarkeit und Gestaltbarkeit von Gesellschaft erteilen sie eine Absage zu Gunsten der Gestaltung des Selbst. Im Kern bedeutet dies eine Übertragung neoliberaler politischer Inhalte in unpolitischer Form auf das Leben der Menschen.
Eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit dem Konzept »des Marktes« wird man bei ihnen zwar nicht finden. Wenn Peale und Grzeskowitz aber immer wieder Unternehmerfiguren anführen, und wenn für alle drei Geld ein zentrales Lebensziel darstellt, dann wird deutlich, dass sie ihre Überzeugungen sehr wohl auch prominent mit ökonomischen Fragen verknüpfen.
Ein Irrationalismus in zweierlei Form
Der eingangs beschriebene Irrationalismus des Marktes im Neoliberalismus ist im Kern ein Irrationalismus des Menschen gegenüber dem Markt: Dieser sowie dessen Ergebnisse werden nicht rational hinterfragt, sondern akzeptiert. Stattdessen entwickelt der Mensch »Strategien« im Umgang mit dieser Situation. Der Einsatz der Vernunft beschränkt sich darauf, diese Strategien zu perfektionieren. Der Markt gilt dabei als eine Art gerechtes Belohnungssystem: Belohnt werde (in realistischerer neoliberaler Auslegung), wer eine bestimmte Nachfrage am besten bedient; bzw. belohnt werde (in offizieller neoliberaler Auslegung), wer sich besonders anstrenge und besonders viel leiste.
Diese Konstellation kehrt in der Ratgeber-Literatur wieder. Peale, Byrne, Grzeskowitz und viele andere teilen die irrationale Überzeugung, dass es eine Art übergeordnetes Belohnungssystem gebe, das individualistisches Denken und Verhalten beurteilt und entweder belohnt oder bestraft. Sei es »Gott«, das »Universum«, ein »Geist«, das »Gesetz der Anziehung« oder was auch immer: Auch hier hat der Mensch die höhere Ordnung nicht zu hinterfragen, sondern als gerecht zu akzeptieren. Und auch hier soll er seine Vernunft darauf beschränken, seine individuelle Strategie im Umgang mit dieser Ordnung zu perfektionieren. Der Markt ist ganz offensichtlich Teil dieser Ordnung. Empfohlen werden Anstrengung, Selbstoptimierung und Selbstmanipulation – wie im Neoliberalismus.
Karl Marx argumentiert bekanntlich, dass die Menschen die sozialen Beziehungen nicht mehr erkennen, die hinter den arbeitsteilig hergestellten Waren stehen, die sie am Markt miteinander austauschen. Aus der menschlichen Beziehung zweier Warenproduzenten werde in ihren Augen vielmehr eine sachliche Beziehung zweier Waren; er spricht vom »Fetischcharakter der Ware« (Marx 1962). Hinter der Oberfläche des Warentauschs sieht Marx damit eine ganze Gesellschaftsform und Produktionsweise versteckt. Aber nicht nur das: Gesellschaftsform und Produktionsweise gewinnen Übermacht über den Menschen selbst. Sie treten ihm als etwas gegenüber, das sich (scheinbar) weder verstehen noch lenken lässt. Marx‘ Bild des Fetischcharakters der Ware weist damit gewisse Übereinstimmungen mit Hayeks Vorstellung »des Marktes« auf. Während Hayek allerdings die menschliche Vernunft ausdrücklich auf das Handeln im Markt beschränken und vom Verstehen des Marktes abhalten möchte, und während die beschriebene Ratgeber-Literatur ein solches Denken und Verhalten als angemessene Lebensmaxime verkauft, fordert Marx genau das Gegenteil: Gesellschaftsform und Produktionsweise zu verstehen, um sie verändern und menschenwürdig gestalten zu können. Exakt hier gründet der Unterschied zwischen Aufklärung und Irrationalismus, zwischen Vernunft und Esoterik (Schreiner 2018b).
Der Irrationalismus des Lebens im Neoliberalismus und der Zwang zur permanenten Selbstoptimierung und Selbstmanipulation bleiben in heutigen Gesellschaften nicht auf Ratgeber-Literatur beschränkt. Sie finden sich beispielsweise auch im Bildungswesen, wo sich Bildung zunehmend auf Kompetenzerwerb beschränkt und vorrangig der Verkaufbarkeit der eigenen Arbeitskraft am Markt dienen soll. Sie finden sich in Casting-Shows, wo junge Leute ihren »Traum« verwirklichen wollen und sich dafür den Spielregeln der neoliberalen Leistungsgesellschaft blindlings unterwerfen. Sie finden sich in Fitnessstudios, die zumeist nicht in erster Linie zur Gesundheitsförderung, sondern zur körperlichen Selbstoptimierung genutzt werden. Diese Liste ist bei Weitem nicht abgeschlossen (Schreiner 2018a).
Warum machen Menschen sowas mit?
Abschließend bleibt die Frage, weshalb Menschen so etwas überhaupt mitmachen. Dass sie es mitmachen, erscheint evident: Peales Hauptwerk wurde in über 40 Sprachen übersetzt und mehr als 20 Millionen mal verkauft. Byrnes Buch befindet sich seit seiner deutschsprachigen Veröffentlichung 2007 bis heute (Mai 2018) ununterbrochen in den Top 50 der Spiegel-Bestsellerliste, davon über ein Jahr in den Top 10. Grzeskowitz verdient als Autor, »Speaker« und »Coach« offenbar mehr als gutes Geld. Und die Zahl vergleichbarer Autorinnen und Trainer ist ebenso enorm wie die Zahl ihrer Themen: Bücher und Seminare über Selbstoptimierungs-Themen wie »emotionale Intelligenz«, »Neuro-Linguistisches Programmieren«, »Achtsamkeit«, »Soft Skills«, »Gruppenarbeit«, »Projektmanagement«, »Selbsterkenntnis«, »Selbstvertrauen« und viele mehr sind ein einträgliches Geschäft.
Im Zeitalter des Neoliberalismus sind die Menschen ganz offensichtlich auf der Suche: nach Antworten, nach Erklärungen, nach Handlungsanleitungen. Sie erleben eine Gesellschaft, in der soziale Bindungen schwächer werden, soziale Rollen an Verbindlichkeit verlieren und die Bedeutung von Großorganisationen wie Gewerkschaften und Kirchen abnimmt. Sie streben nach Anerkennung in einem Umfeld, das an Komplexität und Unsicherheit zunimmt. Dies weckt offensichtlich eine Nachfrage nach Orientierung, die bestimmte Medien- und Seminarangebote bedienen.
Hinzu kommt, dass neoliberale Denk- und Verhaltensweisen zur weitgehend unhinterfragten Normalität geworden sind. Sich selbst zu optimieren, sich für sich selbst verantwortlich zu fühlen - das ist vielen Menschen in den letzten Jahrzehnten in Fleisch und Blut übergegangen. Es gilt als selbstverständlich. Die neoliberale Moral ist in öffentlichen und politischen Diskursen oft gar nicht mehr als solche erkennbar. Auch an der beschriebenen Ratgeber-Literatur lässt sich dies gut erkennen.
Nicht zuletzt sollte man nicht unterschätzen, in welchem Ausmaß für viele Menschen Selbstoptimierung, »Selbstverantwortung« und das Befolgen der neoliberalen Moral mit einem Gefühl von Freiheit verbunden sind. Wenngleich es sich dabei um Freiheit im beschränkten, neoliberalen Sinne handelt, dürfte die Wirkmächtigkeit dieses Empfindens enorm sein. Tatsächlich besteht eines der verbreitetsten Irrtümer über den Neoliberalismus wohl darin, dass dieser ein autoritäres System der Unterdrückung darstelle: Eine solche Sichtweise unterschätzt, in welchem Ausmaß der Neoliberalismus auf Konsens und Zustimmung beruht (Schreiner 2018a). Wer etwa in Internet-Filmchen oder im direkten Erleben sieht, wie begeistert das Publikum an den Lippen der zahlreichen Selbstoptimierungs-Gurus hängt, der mag davon eine vage Vorstellung gewinnen.
Und dennoch gibt es zu übertriebenem Pessimismus keinen Anlass. Kein Mensch ist nur neoliberal. Und die Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen scheint groß. Auch wenn viele der heute zu beobachtenden Widerstände in eine beängstigend falsche Richtung laufen, so gibt es doch auch zahlreiche Beispiele, die optimistisch stimmen können: Von Platz- und Wohnungsbesetzungen in Spanien und den USA über linke Wahlerfolge in Portugal und linke Beinahe-Wahlerfolge in den USA und Großbritannien bis hin zu kämpferischen Gewerkschaftsprotesten in Frankreich oder Griechenland. Ihnen gemein ist, dass sie die bestehende Ordnung nicht akzeptieren, sondern rational hinterfragen und kollektiv herausfordern.
Karl Polanyi hat den Kapitalismus als einen beständigen Widerstreit zwischen stärkerer und geringerer Regulierung von Märkten beschrieben, als eine unablässige Auseinandersetzung zwischen den Menschen und den Märkten (Polanyi 1978; Schreiner 2018b). Folgt man seiner Argumentation, die Entwicklungen über Jahrhunderte hinweg beschreibt, so wäre die derzeitige Phase des Neoliberalismus eine, in der der Markt wieder Oberhand gewonnen hat – mit entsprechender Gegenwehr der Menschen. Tatsächlich spricht einiges für diese Annahme, und nur aus Maßnahmen der Gegenwehr heraus sind tatsächliche Veränderungen zu erwarten. Kari Polanyi Levitt warnt gleichwohl zu Recht davor, Veränderungen in Richtung einer stärker regulierten, rationaleren und menschlicheren Wirtschaftsweise für einen historischen Automatismus zu halten:
»Es ist die entstellte und irreführende individualistische Ideologie, die es modernen Gegenbewegungen lange Zeit so schwer machte, sich zu widersetzen, und es ist genau diese intellektuelle Front, an der progressive und heterodoxe Ökonomen mehr tun müssen, um die Herausforderung anzugehen.« (Polanyi Levitt/ Seccareccia 2016).
Quellenangaben
Byrne, Rhonda 2007: The Secret – Das Geheimnis. 15. Auflage. München.
Grzeskowitz, Ilja 2012: Denk Dich reich! München.
Hayek, Friedrich August von 1977: Der Atavismus sozialer Gerechtigkeit. In: Hayek, Friedrich August von: Drei Vorlesungen über Demokratie, Gerechtigkeit und Sozialismus. Tübingen. S. 23-38.
Hayek, Friedrich August von 1981: Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Die Verfassung einer Gesellschaft freier Menschen. Band 3. Landsberg.
Hayek, Friedrich August von 1986: Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Regeln und Ordnung. Band 1. 2. Auflage. Landsberg.
Hayek, Friedrich August von (1996): Die verhängnisvolle Anmaßung. Die Irrtümer des Sozialismus. Tübingen.
Hayek, Friedrich August von 2005: Die Verfassung der Freiheit. 4. Auflage. Tübingen.
Herrmann, Ulrike 2017: Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie oder Was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können. Bonn.
Marx, Karl 1962: Werke. Band 23: Das Kapital I. Berlin.
Ötsch, Walter Otto 2011: Die Tiefenbedeutung von »Markt«. Ein Schlüssel zum Verständnis der neoliberal-marktradikalen Gesellschaft. (13.06.2016).
Ötsch, Walter Otto/ Pühringer, Stephan 2015: Marktradikalismus als Politische Ökonomie. Wirtschaftswissenschaften und ihre Netzwerke in Deutschland ab 1945. In: ICAE Working Paper 38 (2015).
Peale, Norman Vincent 2006: Die Kraft positiven Denkens. Zürich.
Polanyi, Karl 1978: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt am Main.
Polanyi Levitt, Kari/ Seccareccia, Mario 2016: The Importance of Karl Polanyi’s Analysis to Understanding Current Neoliberalism. < http://www.globalresearch.ca/the-political-movement-that-dared-not-speak-its-own-name-thoughts-on-neoliberalism-from-a-polanyian-perspective/5526320> (9.5.18).
Schreiner, Patrick 2018a: Unterwerfung als Freiheit. 5. Auflage. Köln.
Schreiner, Patrick 2018b: Warum Menschen sowas mitmachen. 2. Auflage. Köln.
Thomasberger, Claus 2009: Planung für den Markt versus Planung für die Freiheit. Zu den stillschweigenden Voraussetzungen des Neoliberalismus. In: Ötsch, Walter Otto/ Thomasberger, Claus (Hg.): Der neoliberale Markt-Diskurs. Ursprünge, Geschichte, Wirkungen. Marburg. S. 63-96.
Dies ist eine leicht überarbeitete Fassung eines Artikels, der in dem neuen Sammelband ▸»Perspektiven jenseits der neoliberalen Hegemonie« erschienen ist. Das Buch basiert auf einem Symposium in Erinnerung an den linken Volkswirt Herbert Schui (1940-2016), das 2017 in Hamburg stattfand.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.