Warum die Welt eine neue Finanzordnung braucht
4. Juli 2019 | Grace Blakeley
Dank der Mobilität von Kapital floss Geld aus dem globalen Süden in Finanz-Strudel wie die Wall Street und die City of London. Davon profitierten nur wenige.
Vor einiger Zeit sprach ich in Washington, D.C., mit internationalen Politikern, Wirtschaftsbossen und Wissenschaftlern, die für den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Frühjahrstagung der Weltbank dorthin gekommen waren. Die Stimmung war düster. »Dies ist ein heikler Moment für die Weltwirtschaft«, sagte Gita Gopinath, die neue Chefvolkswirtin des IWF.
Fünfundsiebzig Jahre sind seit der Gründung dieser internationalen Finanzinstitutionen 1944 in Bretton Woods, New Hampshire, vergangen. Damals versuchten die Staaten, die internationale Finanzwirtschaft zu zähmen. Deren Wachstum hatte den Crash der Wall Street von 1929 und die darauffolgende Weltwirtschaftskrise mit verursacht. John Maynard Keynes leitete die britische Delegation. Er kam nach Bretton Woods mit dem Ziel, die Finanzelite »einzuschläfern« – er sah sie als parasitär für eine produktive Wirtschaftstätigkeit an.
Die damals vereinbarten Kapitalkontrollen schränkten die Macht der internationalen Finanzwirtschaft ein – sehr zum Leidwesen der Banker, von denen nur wenige zur Konferenz eingeladen worden waren. Das Abkommen von Bretton Woods unterstützte die Entwicklung der Sozialdemokratie im Westen und ermöglichte das so genannte goldene Zeitalter des Kapitalismus – eine Zeit mit hohem Wachstum, niedriger Arbeitslosigkeit und sinkender Ungleichheit.
Doch kaum war das System in Gang gebracht, holte die Finanzwirtschaft zum Gegenschlag aus. 1947 veranstaltete eine Gruppe von Anhängern freier Märkte ihre eigene Konferenz am schweizerischen Mont Pèlerin. Ihr Ziel war es, den Widerstand gegen die Welle der »marxistischen oder keynesianischen Planung« anzuführen, »die über die Welt fegt«.
Die Neoliberalen (unter diesem Namen wurde die Gruppe bekannt) argumentierten, dass ein freier Markt, der von einem starken Staat gestützt wird, der einzige Weg zum kollektiven Wohlstand sei. Staatliche Eingriffe, Gewerkschaften und Kapitalkontrollen hingegen zeitigten allesamt unerwünschte Einflüsse.
Die Gruppe schuf ein Netzwerk von Think Tanks, die die Grundsätze des Neoliberalismus verbreiten sollen. Aber in der Blütezeit der Sozialdemokratie galten diese Ökonomen als Extremisten. Es brauchte eine Krise, bis ihre Ideen in das allgemeine Denken Einzug halten konnten.
In den 1970er Jahren begann der sozialdemokratische Kompromiss zwischen Kapital, Arbeit und Staat in der gesamten westlichen Welt zusammenzubrechen. Keynesianer hatten Schwierigkeiten, zu erklären, warum Arbeitslosigkeit und Inflation gleichzeitig anstiegen. Die neue Rechte im Gefolge des Ökonomen Friedrich August von Hayek kam an die Macht und begann, die Märkte zu »befreien«. Dies hätte das Ende von IWF und Weltbank bedeuten können, aber den Institutionen gelang es, sich anzupassen. Unter der Ägide der Vereinigten Staaten wurden sie zum größten Verfechter der marktwirtschaftlichen Globalisierung.
Der IWF und die Weltbank leisteten Pionierarbeit bei der Nutzung von »Strukturanpassungsprogrammen«, die überschuldete Länder wie etwa Ghana und Sambia zwangen, marktfreundliche Reformen als Gegenleistungen für Schuldenerleichterungen durchzuführen. Die Ergebnisse waren oft katastrophal, und die Kosten der »Anpassung« mussten typischerweise diejenigen Menschen tragen, die am wenigsten dazu in der Lage waren. Subsahara-Afrika und Lateinamerika wurden zu Laboratorien für jene Politik, die neuerdings die EU Griechenland auferlegt hat.
Die finanzielle Globalisierung war eine Katastrophe für die Ärmsten. Sie hat die Finanzkrise 2008 mit verursacht. Und dank der Mobilität des Kapitals konnte Geld aus dem globalen Süden in Finanz-Strudel wie die Wall Street und die City of London fließen.
Ein jüngerer Bericht der UN-Welthandelskonferenz UNCTAD zeigt, dass wir die Regeln der internationalen Wirtschaft neu schreiben müssen. Die Staaten müssen in der Lage sein, ihren eigenen Weg zum Wohlstand zu verfolgen, anstatt den Neoliberalismus aufgezwungen zu bekommen. Mächtige Länder müssen Praktiken beenden, die dem globalen Süden aktiv schaden – etwa unfaire Handelsabkommen, die Unterstützung von Unternehmen bei der Vermeidung von Steuern sowie illegale Finanzströme. Und die Staaten müssen zusammenarbeiten, um den Klimawandel zu bekämpfen – was in einem Ausmaß staatliche Eingriffe in die Wirtschaft erfordert, das es bisher in Friedenszeiten so noch nicht gegeben hat.
Den in Washington versammelten Würdenträgern allerdings scheint die Ernsthaftigkeit der Lage nicht klar zu sein. In Veranstaltungen mit Titeln wie »Tapping Big Data to Improve Growth Information« und »Lessons from Experimentation with Crypto-Assets Technology« haben sie offenbar viel glamourösere Themen zu behandeln.
Aber das internationale System ist bereits unter Druck. Wenn die nächste Krise kommt, könnte es völlig zusammenbrechen. Was danach passiert, hängt von den Ideen ab, die dann zur Verfügung stehen.
Der Artikel erschien zuerst auf ▸newstatesman.com. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung. Ãœbersetzung: Patrick Schreiner.
Grace Blakeley ist Wirtschafts-Kommentatorin des New Statesman und Research Fellow beim progressiven britischen Think Tank IPPR.