Warum "gegen Fiskalpakt" nicht zugleich "gegen Europa" bedeutet
21. April 2012 | Patrick Schreiner
Wir erleben momentan ein altbekanntes Spiel: Auf europäischer Ebene werden allerlei höchst fragwürdige politische Maßnahmen, Programme und Verträge beschlossen. Wer diese aber aus inhaltlichen Gründen ablehnt, wird ungeachtet irgendwelcher Argumente als nationalistischer Europagegner oder Europagegnerin abgestempelt. So war es bei der Einführung des Euro. So war es noch bei jeder Beschlussfassung über neue europäische Verträge. Und so ist es aktuell beim Fiskalpakt. Ist auf europäischer Ebene politische Diplomatie und nationalstaatliche Staatsräson also wichtiger als politischer Inhalt? Offenbar ja. Das zeigt: Erst, wenn die europäische Integration kein Selbstzweck mehr ist, sondern der Streit über Inhalte auch auf europäischer Ebene geführt werden kann, wird Europa wirklich umgesetzt.
Aktuell steht die Beschlussfassung des Bundestags und anderer Parlamente in Europa über den so genannten Fiskalpakt bevor. Wieder einmal kommt die Bundesregierung damit der Grenze dessen, was verfassungsrechtlich möglich ist, mindestens extrem nahe. Wieder einmal droht damit auf europäischer Ebene ein Vertrag geschlossen zu werden, der marktradikalen Konzepten folgt. Wieder einmal soll eine noch schärfere Kürzungs- und Austeritätspolitik aus der Krise führen. Der Fiskalpakt ist sozial unvernünftig, weil er die soziale Ordnung in den betroffenen Staaten zerstören und Millionen Menschen ins Elend stürzen wird. Und er ist wirtschaftlich unvernünftig, weil eine noch radikalere Kürzungspolitik die Krise noch mehr verschärfen würde. Selbst die zu Recht gescholtenen Rating-Agenturen warnen mittlerweile vor den negativen Folgen der europäischen "Rezepte" zur Lösung der Eurokrise. Damit gefährdet der Fiskalpakt letztlich die europäische Integration als solche. Jede Menge guter Gründe also, ihn abzulehnen. Genauso, wie es auch in jedem gewöhnlichen Staat möglich ist, unliebsame Gesetze und Verfassungsänderungen abzulehnen. Aber irgendwie scheinen in Europa andere Gesetze zu gelten.
Erinnern wir uns an den Vertrag von Lissabon. Gegen die Kritikerinnen und Kritiker des Vertrags, die sich damals parteipolitisch fast ausschließlich in der PDS fanden, wurde großes Geschütz aufgefahren. Ebenso wie Jahre zuvor gegen die Kritikerinnen und Kritiker der europäischen Währungsunion. Als "nationalistisch" und "europafeindlich" galt, wer auch nur leise Bedenken anmeldete. Ob diese Bedenken tatsächlich nationalisch motiviert waren oder ob sie nicht vielmehr auf drohenden Sozialabbau und wirtschaftspolitische Konstruktionsfehler der europäischen Verträge hinwiesen, spielte im öffentlichen und parteipolitischen Diskurs keine Rolle. (Ebenso wenig übrigens wie die Tatsache, dass die meisten dieser Bedenken sich im Nachhinein als richtig herausgestellt haben.)
Im Grunde ist der Fiskalpakt nichts anderes als der Export der so genannten "Schuldenbremse" aus Deutschland nach Europa. Die "Schuldenbremse" wurde 2009 im Rahmen einer Verfassungsänderung beschlossen. Kritische Stimmen dazu gab es sehr viele, auch in der SPD, die die "Schuldenbremse" mehrheitlich mitgetragen hatte. Wer gegen die "Schuldenbremse" war, bekam allerhand vorgeworfen: Man habe keine Ahnung von Wirtschaft und Finanzen, wolle den Marsch in den Schuldenstaat, habe die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Aber einem Vorwurf sah man sich damals nicht ausgesetzt, wenn man gegen die "Schuldenbremse" war: Es wurde den Kritikerinnen und Kritikern nicht vorgeworfen, dass sie "gegen Deutschland" seien, dass sie "staatspolitische Verantwortung" nicht wahrnähmen oder dass sie ein "historisches Projekt Bundesrepublik" gefährdeten.
Anders in Europa, anders beim Fiskalpakt. Ein Blick in die Bundestags-Debatte vom 29. März ist hier sehr aufschlussreich.
Für Volker Kauder (CDU) steht fest, dass über grundlegende europäische Themen nicht gestritten werden darf. Der SPD wirft er vor, dass zumindest Teile von Fraktion und Partei starke Bedenken gegenüber dem Fiskalpakt anmelden. Damit werde sie ihrer "staatspolitischen Verantwortung" nicht gerecht:
Sie haben ein riesengroßes Problem, zwischen staatspolitischer Verantwortung und SPD-parteipolitischem Kalkül zu entscheiden. Das ist Ihr Thema. Insofern kann ich nur hoffen, dass sich die Vernunft und das Verantwortungsbewusstsein, das ich in der Rede von Frank-Walter Steinmeier gespürt habe, durchsetzen können und nicht das, was der Parteitaktiker Gabriel macht. [...] Ich kann nichts dafür, dass heute auf Seite 1 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung steht, dass Sie sich offen darüber streiten. Es ist kein gutes Signal, wenn man einen solchen Streit öffentlich austrägt, obwohl man Verantwortung für die Stabilität in Europa trägt. Das muss man auch einmal klar und deutlich sagen. Deswegen kann ich nur hoffen – das hat auch der Kollege Trittin gesagt –, dass gesehen wird, dass es hier um eine gemeinsame Position für unser Europa geht.
Der Redner Carsten Schneider (SPD), ein Befürworter des Fiskalpakts, sieht sich bei so schweren Vorwürfen genötigt, Kauder zu widersprechen:
Lieber Kollege Kauder, die SPD ist sich sehr wohl der Verantwortung bewusst, die wir für Europa, also auch für die Stabilität unserer Wirtschaft und Währung, haben.
Für Schneider steht dabei außer Frage, dass eine Zustimmung zum Fiskalpakt der einzige Weg ist, um dieser europapolitischen Verantwortung gerecht zu werden. Für ihn geht es nicht um das Ob, das steht für ihn absolut fest, sondern lediglich um die Details des Wie. Schneider macht dies in seiner Rede mehr als deutlich. Das Ob geht dem Wie voraus.
Bei so viel Verantwortung will Otto Fricke (FDP) nicht nachstehen. "Europa" ist für ihn als "historisches Projekt" sakrosankt. Die politische Prioritätensetzung ist auch bei ihm deutlich - Priorität hat ein Konsens über Europa, anschließend erst darf über die Inhalte dieses Europa diskutiert werden:
Es handelt sich um ein historisches Projekt. Ich finde, das sollten wir noch einmal festhalten. Wir alle wollen dieses Europa. Wir brauchen dieses Europa. Deutschland braucht dieses Europa.
Und auch für Außenminister Guido Westerwelle steht fest, dass "mehr Europa" bedeutet, den Fiskalpakt zu beschließen:
Wenn ich die Debatte, die ich aufmerksam verfolgt habe, zusammenfasse, dann halte ich fest: Bis auf eine Fraktion sind alle Fraktionen der Ãœberzeugung, dass mit mehr Europa auf diese Krise geantwortet werden muss. Mehr Europa wird und soll heute auch hier diskutiert werden.
Die "eine Fraktion", von der Westerwelle hier spricht, ist die Linke. Sie hat ihre Ablehnung des Fiskalpakts in einer Rede Gregor Gysis ausführlich (und unter großer Medien-Aufmerksamkeit) begründet, dabei aber zugleich ihre positive Haltung gegenüber der europäischen Integration und gegenüber "mehr Europa" zum Ausdruck gebracht:
Über föderative europäische Strukturen darf man selbstverständlich nachdenken, aber dann muss es sich um ein soziales, ein freiheitliches, ein demokratisches und ein ökologisches Europa der Bevölkerungen handeln. Sie aber zerstören in Europa den Sozialstaat. Sie zerstören wichtige demokratische Grundsätze, einschließlich der Rechte des Europaparlaments. Sie bauen ein Europa für die Banken und Hedgefonds und nicht für die Bevölkerungen.
Die Linke im Bundestag zeigte sich in der Debatte damit als die einzige Partei, die sich überhaupt fragt, auf welche Art und Weise Europa zu gestalten ist. Ihr gelten offenbar nicht "staatspolitische Verantwortung" oder ein blindes "mehr Europa" als handlungsleitend, sondern politische Inhalte. Sie spricht sich dabei keineswegs grundsätzlich gegen Europa oder gegen "mehr Europa" aus, sondern fragt nach den Bedingungen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gibt es in den Fraktionen von SPD und Grünen zahlreiche Abgeordnete mit ähnlichen Positionen. Und paradoxerweise sehen sich diese Fraktion und diese Abgeordneten dem Vorwurf ausgesetzt, europafeindlich zu sein oder mindestens als europafeindlich zu erscheinen.
Warum kann man ohne Weiteres gegen die "Schuldenbremse" im Grundgesetz sein, bei Kritik an der "Schuldenbremse" in europäischen Verträgen aber wird sofort ein Verstoß gegen "staatspolitische Verantwortung" und die Gefährdung eines "historischen Projektes" daraus?
Vermutlich, weil wir Europa immer noch nicht ernst genug nehmen. Wir tun so, als gäbe es Europa als politische Handlungsebene: Es gibt ja auch tatsächlich europäische Parteien und Verbände, europäische Grundrechte und Quasi-Gesetze. Bei europapolitischen Grundsatzfragen aber hängen wir immer noch im nationalstaatlichen Denken fest. Dann wird aus einem "Gegen-Maßnahme-X" plötzlich ein angebliches "Gegen-Europa". Dann ist man zuerst Deutscher (Französin, Italiener, Polin usw.) mit staats- und europapolitischer Verantwortung. Dann ist man erst in zweiter Linie links oder rechts mit einer bestimmten Position zu einem bestimmen Vertrag oder Gesetz.
Europa wird erst dann verwirklicht sein, wenn wir die Frage nach dem Wie nicht nachrangig, sondern gemeinsam mit der Frage nach dem Ob stellen.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.