Was ist eine Krise? Ein Rückblick auf die Wirtschafts- und Finanzkrisen 2008 und 2010
2. Mai 2019 | Walter Otto Ötsch, Stephan Pühringer
Dass die ökonomische Zunft Krisen durch eine ideologische Brille interpretiert, zeigt ein Blick auf öffentliche und wissenschaftliche Diskussionen um die Finanz- und Wirtschaftskrisen 2008 und 2010. Die Grenzen zwischen Politik und Wissenschaft sind fließend.
Krise 2008
Ab Herbst 2008 dominierte in der Medienberichterstattung eine Darstellung der damaligen Situation als »Krise«. An dieser Debatte nahmen auch viele ÖkonomInnen teil, von denen einige sich drei Jahre vorher im »Hamburger Appell« zu Wort gemeldet hatten. Damals präsentierten sie angebotsseitige Gründe für die vermeintliche Krise: »Hohe Arbeitskosten und hohe Steuerlasten« würden »unmittelbar die Investitionsbereitschaft« mindern und sofortige Reaktionen am Arbeitsmarkt und in der Sozialpolitik erfordern: »Die Arbeitskosten [sind, Anm. d. A.] ein Schlüssel zur Überwindung der deutschen Wachstumsschwäche.«
Diese ÖkononomInnen waren jetzt - 2008 - mit ihrem »Sachverstand« deutlich zurückhaltender. Im Unterschied zu 2005 konnten sie nicht eindeutig sagen, ob 2008 überhaupt eine »Krise« vorliegt, von welcher Art sie ist und was politisch mit welcher Dringlichkeit unternommen werden müsse. Eine umfassende Reaktion wie 2005 mit eindeutigen Aussagen und der Aufforderung zu sofortigem Handeln war von ihnen in der Finanzkrise nicht zu hören. Offensichtlich lag für sie im Jahre 2008 eine ganz andere »Krise« vor, als dies für 2005 behauptet wurde.
Grundsätzliche Kritiken kamen 2008 meist nur von Außenseitern, die die mangelnde Regulierung des Finanzsektors, die bewusste Schaffung und Tolerierung unregulierter Rahmen in Offshorezentren oder Regulierungsoasen (Ötsch et al. 2014) oder die tendenzielle Zunahme von sozialer Ungleichheit in kapitalistischen Gesellschaften (Piketty 2014) mit deren Krisenanfälligkeit in Verbindung brachten. Hier wurden auch jene ökonomischen Theorien problematisiert, die die Grundlagen für das moderne Finanzsystem dargestellt hatten, wie etwa die Effizienzmarkthypothese von Eugene Fama oder das Black-Scholes-Merton Model, und diesen Denkweisen eine (Teil-)Schuld am Ausbruch der Krise zuschrieben. Im Frühling 2009 war auch (begleitend zu den Konjunkturrettungsprogrammen) von einem »Keynesianischen Moment« die Rede (Hirte 2013: 78ff.) – mit einer zeitweisen Abschwächung der angebotsorientierten Logik. Der »Wirtschaftsweise« Christoph Schmidt meinte jetzt: »Ein guter Makroökonom kann nie nur angebotsorientiert sein oder nur nachfrageorientiert. Ich möchte auf keinen der beiden verzichten – weder auf Keynes noch auf Friedman« (zit. in: Spiegel vom 8.3.2009). Aber auch in dieser Rhetorik haben es die meisten ÖkonomInnen vermieden, die Finanzkrise als Krise des Wirtschaftssystems sowie als Indiz für eine Krise des eigenen Faches zu deuten.
Am Anfang des Krisendiskurses ab 2008 war auch nicht von einer Krise des Wirtschaftssystems, sondern von einer Krise der USA die Rede: »Nichts und niemand scheint ein Übergreifen der amerikanischen Krise auf die deutsche Wirtschaft noch stoppen zu können«, so Thomas Straubhaar im Spiegel vom 30.9.2008. Und Berhard Felderer, damals Chef des IHS, sprach in den Salzburger Nachrichten vom 18.9.2008 von einer »chaotischen Situation auf dem amerikanischen Finanzmarkt«, die sich auch auf Europa auswirke.
Analysen zu den Stellungnahmen von ÖkonomInnen in führenden deutschsprachigen Pressemedien ab 2008 zeigen, dass sie vor allem zweifach argumentiert haben (vgl. Debertin 2012, Hirte 2013 und Pühringer/Egger 2018). Zum einen wurde die Finanzkrise moralisch »erklärt«: Es seien moralische Regeln verletzt worden und Banker hätten unethisch gehandelt. Der deutsche Bundespräsident und frühere IWF-Chefökonom, Horst Köhler, sprach Anfang Oktober 2009 auf der Festveranstaltung zum 60-jährigen Bestehen des Deutschen Gewerkschaftsbundes von den »Hütchenspielern im Shadow-Banking« sowie einem »noch nicht gezähmten Monster« bei gleichzeitiger Inanspruchnahme des Ordoliberalismus: »Die ordnungspolitischen Vordenker unserer Sozialen Marktwirtschaft haben Recht behalten: Der Markt alleine richtet nicht alles zum Guten« (Zeit vom 5.10.2009). Thematisiert wurde vor allem das »Moral Hazard« von Bankern durch Anreize, »die die Banken veranlassen, zu große Risiken einzugehen, weil sie am Ende die Rechnung nicht bezahlen müssen«, so z. B. Jürgen Stark, der ehemalige Chefökonom der EZB (im Spiegel vom 23.11.2009). Aber die Moralisierungsdebatte – auch in einer Schuldzuweisung an Personen – ging manchen zu weit. Hans-Werner Sinn, der in den Medien als prominentester Ökonom Deutschlands fungierte, grub im Oktober 2008 die stärksten Hämmer aus: »In jeder Krise wird nach Schuldigen gesucht, nach Sündenböcken. Auch in der Weltwirtschaftskrise von 1929 wollte niemand an einen anonymen Systemfehler glauben. Damals hat es in Deutschland die Juden getroffen, heute sind es die Manager« (Tagespiegel vom 27.10.2008).
Zum Zweiten wurde die Finanzkrise mit Analogien zu Krankheit und Naturereignissen beschrieben: Die aktuelle Wirtschaft habe Fieber und die Finanzkrise sei wie ein Tsunami oder ein Erdbeben hereingebrochen. »Niemand konnte sich vorstellen, dass ein solches Ereignis das System weltweit erschüttert: dass Kredite, in Wertpapiere umgewandelt, einen solchen ökonomischen Tsunami auslösen würden, dass die Wellen auch noch den letzten Kleinsparer in der deutschen Provinz überrollen können. ‚Die Globalisierung der Finanzindustrie reicht viel weiter, als viele dachten‘, sagt der Ökonom Burda« (Spiegel vom 15.12.2008, Michael Burda war dann von 2011 bis 2014 Vorsitzender des Vereins für Sozialpolitik, der wichtigsten Vereinigung von ÖkonomInnen in Deutschland).
»Begründungen« dieser Art entfachen ihre Wirkungen: Sie erklären die Finanzkrise zu einer bedauernswerten Ausnahme, die mit der eigentlichen Funktionsweise des Wirtschaftssystems wenig zu tun habe. Dadurch wurde die Politik auch nicht aufgefordert, das Finanzsystem umfassend neu zu organisieren, damit eine neue Finanzkrise in der Zukunft nicht mehr auftreten kann. Gleichzeitig wurde auf diese Weise auch die eigene Wissenschaft geschützt, sie sollte durch die Finanzkrise 2008 und die Wirtschaftskrise 2009 nicht in Frage gestellt werden. Damit konnte auch der eigene Beitrag zur Entstehung der Krise nicht ernsthaft in Augenschein genommen werden. Die meisten ÖkonomInnen hatten z.B. vor der Finanzkrise 2008 viele Jahre lang mit Erfolg eine Deregulierung des Finanzsystems gefordert. Gerade die Finanzmärkte, so dachte man, kämen dem idealen Markt, wie er in den Lehrbüchern unterrichtet wird, besonders nahe: Hier bilden sich blitzschnell Preise, die (wie das wichtigste Modell »des Marktes« besagt) immer ein Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage garantieren. Dass bestimmte Finanzmärkte, wie der Interbankenmarkt, der Markt für Repogeschäfte oder Geldmarktfonds 2007 und vor allem im Herbst 2008 fast zum Erliegen gekommen sind, konnte im Denken »des Marktes« (Ötsch 2019) nicht erahnt, nicht einmal für möglich gehalten werden. Der deutsche Sachverständigenrat zum Beispiel hat kontinuierlich über Jahrzehnte Finanzinnovationen positiv beurteilt, auch die, die dann direkt die Finanzkrise ausgelöst haben (vgl. Wienert 2009). Eugen Fama, der Begründer der Effizienzmarkthypothese, wurde im Jahre 2010 gefragt, wie er sich im Rückblick die Ereignisse im Jahre 2008 erkläre: »Warum hat es eine Kreditblase gegeben?« Seine selbstbewusste Antwort war: »Ich weiß gar nicht, was das bedeutet. (…) Ich weiß nicht einmal, was Kreditblase bedeutet. Diese Worte sind populär geworden. Ich glaube, sie haben überhaupt keine Bedeutung. [… Die Kredite für Hauskäufe, Anm. d. A.] waren staatliche Politik, kein Marktversagen. (…) Wir wissen nicht, was Rezessionen verursacht haben. (…) Wir werden es nie wissen. (…) Die Ökonomie ist nicht sehr gut darin, den Umschwung in ökonomischen Aktivitäten zu erklären.« Und auf die Frage: »Sie denken immer noch, dass der Markt insgesamt hoch effizient ist?«, meinte Fama »Ja. Und wenn er es nicht ist, dann wird es unmöglich sein, dass zu sagen.« (Cassidy 2010, eigene Übersetzung)
»Von wenigen Ausnahmen abgesehen suchen die Ökonomen heute die Schuld ausschließlich bei anderen,« meinte Gebhard Kirchgässner zur Finanzkrise (Kirchgässner 2009) – auch direkt zu medial wirksamen Ökonomen: »So sieht z.B. der ‚Kronberger Kreis’, ein einflussreiches privates Gremium rechtsliberaler deutscher Wirtschafts- und Rechtsprofessoren, in seiner Stellungnahme zur Finanzmarktkrise die Schuld ausschließlich beim Verhalten der Bankmanager sowie vor allem bei der Politik. (…) Vielleicht hätte man aber vom ‚Kronberger Kreis’ erwarten dürfen, dass er früher auf die mit dieser Politik verbundenen Probleme aufmerksam gemacht hätte. In all den vielen Stellungnahmen, die dieses Gremium in den vergangenen Jahren herausgegeben hat und die regelmäßig ‚mehr Markt’ in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen forderten, findet sich darüber oder auch zum Problem einer sinnvolleren Regulierung der Finanzmärkte nichts« (ebenda: 8f.; vgl. zum Kronberger Kreis, seinen Netzwerken und seiner Bedeutung für die Geschichte der Wirtschaftspolitik Deutschlands Ötsch u.a. 2017).
Aber auch Kirchgässner bezieht diese Kritik nicht auf die ökonomische Theorie: »Die Schuld daran bei den mathematischen Modellen zu suchen, greift aber zu kurz. (…) Wenn z.B. (wie kürzlich in St. Gallen) das Dach einer erst vor kurzem errichteten Sporthalle einstürzt, wird man untersuchen, wo die Konstruktionsfehler gelegen haben, um ein solches Unglück in Zukunft zu vermeiden, aber man wird deshalb nicht das ganze Gebiet der technischen Statik oder schon gar nicht die gesamte Physik als überholungsbedürftig ansehen. Ähnliches sollte auch für die Ökonomie gelten« (Kirchgässner 2009: 8).
All das hatte zur Wirkung, dass sich auch in den Lehrbüchern seit 2008 kaum etwas verändert hat. Als Beispiel verweisen wir auf das Lehrbuch von Mankiw und Taylor. In der 5. (deutschen) Auflage 2012 wurde ungefähr auf Seite 1000 ein neues Kapitel mit 25 Seiten zur Finanzkrise eingefügt. Helge Peukert (2016: 125f.) bezeichnet das als einen »recht vage[n] Rundumschlag hinsichtlich der Ursachen der Finanzkrise«, wie eine »weitgehende Deregulierung«, die mit »gesellschaftlichen Veränderungen« zusammenhing. Es gab »mathematische Zauberei«, »viele hielten den Konjunkturzyklus für überwunden und so weiter.« Nebulös heißt es dann: »Den unstillbaren Durst nach Krediten auf beiden Seiten des Atlantiks sehen viele als Grund der Finanzkrise an« (Mankiw/Taylor 2012: 1000). Peukert zieht zu diesem Kapitel im Lehrbuch folgendes Resümee: »Zwar werden im Folgenden der Subprime-Markt, Verbriefungen, die Bonuskultur, Informationsasymmetrien und so weiter mit deskriptiven Einsprengseln aus dem turbulenten Krisengeschehen erwähnt, aber über das Aneinanderreihen von Ereignisschnipseln zum Thema geht es nicht hinaus. Oft wird unterstellt, es handele sich um situativ bedingte, verständliche (allzu menschliche) Ausrutscher« (Peukert 2016: 126).
Krise 2010
Die Debatte um die Staatsschulden ab Herbst 2009 kann als Fortsetzung des Krisendiskurses seit 2008 verstanden werden und basiert auf den spezifischen Deutungen der Finanzkrise 2008, die ihr weder eindeutige Ursachen zugeordnet noch ein dringliches Handeln von der Politik gefordert hatten. Damit konnte überraschend schnell eine deutliche Verschiebung im Krisendiskurs stattfinden. Die spärliche Debatte der Finanzkrise 2008 als systemischer Krise des Wirtschaftssystems wurde damit verdrängt – mehr noch: Die Debatte um die Finanzkrise überhaupt wurde in den Medien fast zur Gänze beendet. Anstelle der (ungenügend thematisierten) Finanzkrise 2008 wurden ab Herbst 2009 bzw. Frühling 2010 die »Staatsschulden« und die »Eurokrise« in den Vordergrund gerückt. Dabei wurde in hohem Maße an den moralischen Diskurs ab 2008 angeknüpft. Dies erfolgte nach zwei Richtungen: in Bezug auf das Ausland (vor allem Griechenland) – hier hätte es ein moralisches Fehlverhalten von PolitikerInnen gegeben; und in Bezug auf das Inland: hier müssten aus moralischen Gründen die Ansprüche an den Sozialstaat zurückgeschraubt werden. Das stärkste Bild in diesem Moraldiskurs bildete in Deutschland die »Schwäbische Hausfrau«: »Man hätte« so Angela Merkel am CDU-Parteitag in Stuttgart Anfang Dezember 2008 »hier in Stuttgart, in Baden-Württemberg, einfach nur eine schwäbische Hausfrau fragen sollen. Die hätte uns eine ebenso kurze wie richtige Lebensweisheit gesagt: Man kann nicht über seine Verhältnisse leben. Das ist der Kern der Krise« (zit. in: Spiegel vom 1.12.2008).
Die Finanzkrise 2008 hatte zur Folge, dass das kreditfinanzierte Wachstumsmodell der europäischen »Südstaaten«, das in den Jahren vorher für hohe Wachstumsraten gesorgt hat, zusammengebrochen ist. Das exportorientierte Modell vor allem von Deutschland blieb erhalten. Deutschland wurde in seiner Rolle als Schwergewicht in der EU aufgewertet. Dies hatte auch zur Folge, dass der deutsche Moraldiskurs für die gesamte EU dominant werden konnte. Anhand der Metapher von der »Schwäbischen Hausfrau« konnte die Moralisierung der Ursachen der Finanzkrise zu einem allgemeinen Narrativ des »Über-die-Verhältnisse-Lebens« umgedeutet und auf die Problematik der gestiegenen Staatschulden umgelegt werden (Pühringer 2015). Auf juristischer Ebene manifestiert sich dieser Wandel in den folgenden Jahren in einer Reihe von Gesetzgebungen, wie dem Europäischen Semester 2010, dem Euro-Plus-Pakt und dem Europäischen Stabilitätsmechanismus 2011 und dann insbesondere dem Europäischen Fiskalpakt 2012. Die Intention dieser Gesetzesreformen zeigt sich eindrücklich an der Festlegung des damaligen EU-Währungskommissars Olli Rehn (2010) im Zuge einer Pressekonferenz: »Sanctions should be the normal, almost automatic, consequence to be expected by countries in breach of their commitments«. Lukas Oberndorfer (2012) beschreibt diese juristischen Schritte einer zunehmenden Austeritätsdoktrin daher auch treffend als »autoritären Konstitutionalismus«.
Auf diskursiver Ebene wiederum widerspiegelt sich in der Umdeutung von einer Finanzkrise in eine Staatsschuldenkrise eine Umkehrung von Krisenursachen und Krisenauswirkungen. So wurde in vielen Studien klar festgestellt, dass der Anstieg der Staatsschuldenquoten in Europa unmittelbar auf die Konjunktur- und Bankenrettungsprogramme zurückzuführen ist, die in den Jahren 2008 und 2009 durchgeführt wurden, um die ökonomischen Instabilitäten sowie die teilweise dramatischen ökonomischen Auswirkungen der Krise, insbesondere auf den Arbeitsmärkten, einzudämmen (etwa Heimberger 2015). In der Zuspitzung des »Über-die-Verhältnisse-Lebens« als Krisenursache bei Angela Merkel sowie im veränderten Framing der Krise als »Schuldenkrise« werden nun diese erhöhten Staatsschulden problematisiert und als Krisenursachen ausgemacht – und dies meist ohne großen öffentlichen Widerspruch.
In dieser Deutung ist es nun nicht mehr möglich, gesamtsystemische Ursachen der Krise zu beleuchten, bzw. die Krisenanfälligkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems als Ganzes zu diskutieren. So stellt Hans-Werner Sinn in der ZEIT vom 25.6.2009 fest: »Es ist ein systemischer Fehler im Finanzbereich, nicht ein Fehler des kapitalistischen Systems. Ein Problem waren die unzureichenden Eigenkapitalvorschriften, die die Manager an der Wallstreet zu Glücksrittern gemacht haben. Marktwirtschaft ist ja kein System, wo jeder tun und lassen kann, was er will«. Gleichsam geht mit der Verschiebung der Wahrnehmung der Krisenursachen auch eine Verschiebung in der Frage des besten Umgangs mit der Krise einher. Somit kommt es immer stärker zu einer Fixierung auf die Höhe der Staatsschulden und zu einer Ausblendung anderer Ursachen der Krise sowie Missständen im Finanzsystem, die mit dem Ausbruch der Finanzkrise offenbar wurden. Dabei wurde im politischen und öffentlichen Diskurs dem ökonomischen Narrativ gefolgt, dass Schulden per se abzulehnen seien, bzw. es einen absoluten Höchststand der Staatsschuldenquote gäbe, der ökonomisch bedrohlich sein könnte. Dieses Narrativ stützte sich auch auf die Arbeiten von Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff (2010), die empirisch einen solchen Höchststand bei 90% des BIPs berechneten. Auch wenn drei Jahre später nachgewiesen werden konnte, dass dieser Wert auf Datenauswertungsfehler zurückzuführen ist und Reinhart und Rogoff ihre Ergebnisse auch zurücknahmen, war die Aussage dennoch eine der zentralen Grundlagen für die Austeritätspolitik in Deutschland und Europa – sowohl der damalige deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble als auch der Bundesbankpräsident Jens Weidmann haben sich mehrmals auf diese Studie bezogen.
Zusammenfassend zeigt sich also schon sehr früh, dass es im Zuge der Finanzkrise zwar zu einem »keynesianischen Moment« (Krugman) gekommen sein mag, mit der diskursiven Krisenumdeutung von einer Finanzkrise in eine Staatsschuldenkrise aber die Räume für tatsächliche Neuorientierungen innerhalb der ökonomischen Disziplin als auch für wirtschafts- und finanzmarktpolitische Reformen zunehmend enger wurden. Der moralische Frame des »Über-die-Verhältnisse-Lebens« als Kern der Krise, der schließlich in die Schuldenbremse und später den Fiskalpakt auf EU-Ebene mündete, wurde dabei noch dadurch gestärkt, dass hier explizit an das (erschütterte) Vertrauen zwischen EU-Staaten appelliert wurde. Während Schäuble hier offiziell klarstellt, die Solidarität (Deutschlands) könne nur gegen Solidität (der »Krisenländer«) gewährleistet werden, wird insbesondere in deutschen Boulevard-Medien das Bild der »faulen Griechen« bedient. In diesem Kontext stellte dann etwa der damalige Bundesbankpräsident Axel Weber in der FAZ vom 28.2.2010 fest: »Ein Beistand für Griechenland ist in der Währungsunion nicht vorgesehen (…) Ich halte solche Hilfen für kontraproduktiv, Griechenland muss den harten und steinigen Weg der Konsolidierung selbst gehen.« Und während Weber hier die politischen Konsequenzen für Griechenland skizziert, betont Otmar Issing, ebenfalls früherer Chefvolkswirt bei der Bundesbank und ein zentraler Knotenpunkt deutscher neoliberaler Think-Tank-Netzwerke, das moralisch schuldhafte Verhalten, das zur Krise geführt habe: »Nicht von ungefähr hat Griechenland, nicht zuletzt dank stark steigender Bezüge im öffentlichen Dienst, den Abstand im Lebensstandard zum Durchschnitt der Länder der Währungsunion oder auch zu Deutschland über die Jahre hinweg erheblich verkürzt. Dieser Aufholprozess war aber im Wesentlichen nicht durch Produktivitätsfortschritte getragen, sondern über eine starke Ausweitung der Kredite und der Staatsausgaben erkauft. Zu einem jahrelangen Kurs der Austerität, des Sparens und geringeren privaten wie öffentlichen Konsums gibt es daher keine Alternative« (Issing in der FAZ vom 20.2.2010).
Die Grundintention der Schuldenbremse und der EU-Austeritätspolitiken ist und war es, den fiskalpolitischen Spielraum für Staaten einzuengen. Jetzt kann wieder – wie 2005 – ein Versagen der Politik konstatiert werden: »Es fehlten das Tempo und die Klarheit, um den Märkten zum richtigen Moment das richtige Signal zu schicken. Politikprozesse in unseren Demokratien sind nicht dafür geeignet, von heute auf morgen Tabus zu brechen oder sehr schnell Schocksignale nach draußen zu schicken« (Henrik Enderlein in der FAZ vom 20.5.2010).
Bei diesem Text handelt es sich um zwei leicht überarbeitete Kapitel aus dem Artikel der Autoren »Was ist eine Krise? Wie ökonomische Theorien Wahrnehmung formen«, erschienen in der österreichischen ▸Zeitschrift »Kurswechsel« Ausgabe 4 (2018). Schwerpunktthema dieser Heftausgabe ist die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008ff. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.
Walter Otto Ötsch ist ein österreichischer Ökonom und Kulturwissenschaftler. Er ist Professor für Ökonomie und Kulturgeschichte an der Cusanus Hochschule Bernkastel-Kues.
Stephan Pühringer ist Post-Doc Researcher am Institut für die Gesamtanalyse der Wirtschaft an der Uni Linz.