Welch ein Irrtum: Manche meinen, rechte und linke EU-Kritik könne man schnell verwechseln
19. November 2015 | Sebastian Friedrich, Jens Zimmermann
Für die europäische Linke sind die Geschehnisse im Sommer 2015 niederschmetternd. Es gelang ihr nicht, auch nur den Hauch eines Einflusses auf die Verhandlungen zwischen den Gläubigern und der griechischen Regierung zu nehmen. Angesichts der offensichtlich gewordenen Ausweglosigkeit innerhalb des EU-Rahmens verwundert es nicht, dass eine neue Debatte um einen linken »Grexit« entfacht ist. Linke, die die Institutionen der EU ablehnen, müssen sich vonseiten des medialen Mainstreams, der offiziellen Politik sowie von linksliberaler und sozialdemokratischer Seite den Vorwurf anhören, nationalistisch zu argumentieren, weil auch Konservative und extrem Rechte die EU und den Euro ablehnen. Das wirft die Frage auf, was eigentlich die Kernelemente rechter EU-Kritik sind - und was diese von den Grundzügen einer linken EU-Kritik unterscheidet.
Das Spektrum der rechten Parteien, die der EU ablehnend gegenüberstehen, ist breit. Es reicht von nationalneoliberalen bis zu neonazistischen Parteien. Relativ am erfolgreichsten sind bisher der Front National (FN) in Frankreich und die United Kingdom Independence Party (UKIP) in Großbritannien. Beide Parteien konnten bei den Wahlen zum Europaparlament im Mai 2014 in ihren Ländern die meisten Stimmen auf sich vereinen. Zugleich stehen beide Parteien für unterschiedliche Strömungen innerhalb der parteienförmig organisierten extremen Rechten: Während sich UKIP bieder-rechtsliberal gibt, versucht sich der FN als Retter des französischen Sozialstaats zu profilieren.
Die sozialen Versprechen des Front National
Die rechte EU-Kritik hat vor allem seit der Krise ab 2008 Konjunktur. Das liegt vor allem auch daran, dass es Parteien gelingt, Unsicherheitsgefühle und Abstiegsängste zu kanalisieren. Wie rechte Parteien die soziale Frage in rassistischer und nationalistischer Weise beantworten, zeigt am deutlichsten momentan der FN. Die Partei hat sich in den vergangenen Jahren deutlich in Richtung einer wirtschafts- und sozialpolitischen Profilierung entwickelt, die Parteispitze bearbeitet klassisch rechtskonservative gesellschaftspolitische Themen deutlich weniger. Beispielsweise gibt sich die Vorsitzende Marine Le Pen in Bezug auf die in Frankreich heiß diskutierte Home-Ehe bewusst reserviert und verzichtet in dieser Frage auf den Schulterschluss mit dem ultrakonservativen Parteiflügel. Doch die sozialen Versprechen des FN richten sich ausschließlich an Franzosen, der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit wird zu einem zwischen Immigrant_innen und Inländer_innen. So sollen etwa getrennte Sozialkassen eingerichtet und Sozialhilfe wie Kindergeld ausschließlich an französische Staatsbürger_innen gezahlt werden.
Die Rechte erkennt die Lücke
Doch der FN setzt mit seiner nationalistischen Politik keineswegs nur auf die Abgehängten. Bei den Wahlen zum Europaparlament konnte der FN zwar unter den Erwerbslosen die meisten Stimmen auf sich vereinen, zugleich war er unter den Selbständigen zweitstärkste Partei. Dieses Bild spiegelt sich auch in den regionalen Hochburgen wider. Weiterhin stark sind die Frontisten im deindustrialisierten Nordosten und im reichen Süden Frankreichs. Im Norden wird der FN von Arbeiter_innen gewählt, die sich als Verlierer_innen der Globalisierung sehen, die von linken wie rechten Parteien enttäuscht sind, im Süden kann der FN auf radikalisierte ehemalige UMP-Anhänger_innen setzen, »die auf Traditionsverbundenheit Wert legen, größtenteils der Mittelklasse und den freien Berufen angehören und wirtschaftlich liberaler denken«, wie Jean-Yves Camus 2014 in einer Analyse für die Friedrich-Ebert-Stiftung schrieb.
Ähnliches gilt in England: Auch hier setzt UKIP auf ein Klassenbündnis aus Teilen der enttäuschten Arbeiterklasse sowie den reaktionären, ultrakonservativen Teilen des Kleinbürgertums. Laut den britischen Politikwissenschaftlern Robert Ford und Matthew Goodwin setzt sich die Anhängerschaft der rechten EU-Kritiker_innen aus konservativen Arbeitgebern, Kleinunternehmern und traditionell Labour wählender Arbeiterklasse zusammen.
Dieses Klassenbündnis ist durchzogen von inneren Widersprüchen. So stützt sich der FN auch weiterhin auf Selbständige und auf Unternehmen, die sich auf regionale Absatzmärkte konzentrieren. Dieses Kleinbürgertum hat kein Interesse an Zugeständnissen an die Arbeiterklasse. Bisher gelingt es dem FN, beide Interessengruppen zu bedienen: So fordert er neben einer Anhebung des Mindestlohns die Senkung der Sozialabgaben. Um die widerstreitenden Interessen zu überdecken, setzen rechte Parteien neben der mehr oder weniger strikten Ablehnung von Einwanderung die Kritik an der EU und am Euro als ideologischen Kitt ein.
Der Erfolg rechter EU-Kritik hängt unmittelbar zusammen mit der grundlegenden Krise sozialdemokratischer und linker Parteien und Bewegungen. Entweder beschönigen sie die EU als »Kampffeld«, das man nicht ablehnen, sondern auf dem man agieren müsse, oder sie halten sich aus Angst vor Nationalismus zurück. Die Rechte hat diese Lücke schon früh erkannt. Noch bevor die Krise der Linken sich vertiefte, war der FN Vorreiter bei der Übernahme linker Inhalte. Bereits 1990, nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus, wollte sich der FN als »national-soziale« Kraft positionieren und inszenierte sich erfolgreich als Hüter des französischen Sozialwesens, da er mit dieser Strategie aus der Schwäche der französischen Linken Profit schlagen konnte. Die Linke bestellte dafür das Feld. Die sozialdemokratische SP hat ihrerseits mit dem »Pakt der Verantwortung« eine weitere Senkung der Arbeitskosten durchgesetzt und folgt dem Paradigma der Austeritätspolitik.
Viele Ansatzpunkte für linke Kritik
Die rechte EU-Kritik greift auf eine ideologische Färbung »nationaler Souveränität« zurück, welche die in der ökonomischen und politischen Krise zugespitzte soziale Frage in nationalistischer, chauvinistischer und rassistischer Weise beantwortet. Damit stabilisieren sie im Effekt die bestehenden Verhältnisse, da die mit dem neoliberalen Kapitalismus einhergehende Standortpolitik nicht infrage gestellt und die Konkurrenz innerhalb der Arbeiterklasse befördert wird. Rechter Agitation gegen die EU geht es gerade nicht um eine Auseinandersetzung mit der institutionellen Verfasstheit, der machtpolitischen und ökonomischen Asymmetrie der Europäischen Union oder der Thematisierung von sozialer Ungleichheit und der Umverteilung zwischen Arbeit und Kapital. Die Kritik daran kann nur von links kommen.
Ansatzpunkte für eine grundsätzliche linke EU-Kritik bieten aktuelle Entwicklungen zur Genüge. Um nur einige zu nennen: der Umgang mit Geflüchteten, die zunehmende Ungleichheit zwischen Zentrum und Peripherie innerhalb der EU, das uneingelöste Versprechen einer Sozialunion oder die Dethematisierung von Europas historischer und aktueller Rolle in der Geopolitik. Die Europa-Ideologie hat von Anfang an die Rolle Europas in der Zeit des Kolonialismus ausgeblendet, die nicht nur bis heute in Form von »Entwicklungszusammenarbeit«, sondern auch als imperialistisches Projekt der in Europa führenden Nationalstaaten weitergeführt wird.
Auch die Kritik an mangelnder Demokratie in der EU sollte nicht Rechten überlassen bleiben. Dass das Europäische Parlament nicht im vollen Umfang die genuinen Aufgaben eines Parlamentes ausführen kann und dagegen der bar jeder demokratischen Legitimation agierende Europäische Rat das machtpolitische Zentrum der Europäischen Union bildet, ist keine Naturkatastrophe, die das europäische Haus beschädigt hat. Das Undemokratische ist vielmehr Ausdruck einer zwar supranational organisierten, aber im Kern doch von bestimmten nationalen Interessen dominierten Herrschaftsform. Das wird gerade offensichtlicher denn je. Das Kaudersche Diktum, dass in Europa Deutsch gesprochen werde, ist auch nach vier Jahren gültig, wie die Führungsrolle der deutschen Bundesregierung bei der Durchsetzung des verheerenden Austeritätsregimes in Griechenland dokumentiert. Auch ökonomisch geht der »Exportweltmeister« gestärkt aus der Wirtschafts- und Eurokrise hervor: Deutsche Staatsanleihen gelten Kapitalanlegern in der Krise als »sicherer Hafen«. Eine linke EU-Kritik ist aktuell notwendiger denn je - gerade hierzulande, will man nicht zum Feigenblatt deutschen Großmachtstrebens verkommen.
Dieser Artikel basiert auf einer Analyse, die im Magazin "Hintergrund" erschienen ist. Er wurde zuerst in "analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis" Nr. 609 veröffentlicht. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung. Dieser Text ist von der CC-Lizenz gemäß Impressum ausgeschlossen; das Zitieren und das Verlinken des Textes ist erlaubt, nicht aber das Vervielfältigen/Kopieren.
Sebastian Friedrich ist Journalist und Publizist aus Hamburg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Sozialstaatsdiskurse, Neue Rechte, AfD, Kritische Soziale Arbeit, Diskursanalyse sowie Klassenanalyse. Als @formelfriedrich twittert er regelmäßig. Seine Homepage: sebastian-friedrich.net.
Jens Zimmermann ist Mitarbeiter des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS) und beschäftigt sich u.a. mit der Verschränkung von Rassismus und Klassenherrschaft.