Welthandel: Fakten und Schwindel
29. November 2018 | C.P. Chandrasekhar
Alle Länder und die Mehrheit ihrer Bevölkerungen profitieren vom globalen Handel? Die Stimmen, die das in Frage stellen, werden immer lauter. Das Neue an der heutigen Situation ist, dass das wichtigste protektionistische Land kein Entwicklungsland ist, sondern der globale Hegemon USA unter Präsident Donald Trump.
Der Freihandel komme großen Unternehmen mit Produktionsstätten im Ausland zugute, argumentiert Trump, während er diejenigen schädige, die auf der Suche nach einem angemessenen Lebensunterhalt in Amerika arbeiten. Mit der Zeit hat Trump deutlich gemacht, dass seine Worte nicht einfach nur Rhetorik sind; er hat sie in Form von Zöllen Wirklichkeit werden lassen. Sie haben die europäischen und nordamerikanischen Verbündeten der USA und die US-Unternehmen ebenso erschreckt wie China und Japan. Eine Nation, die sich für einen freieren Handel einsetzte, zieht jetzt wirtschaftliche Mauern an ihren Grenzen hoch. Diese politische Wende im globalen Zentrum untergräbt nicht nur die Argumente für den Freihandel, sondern bestärkt auch die Argumention, die normalerweise von Entwicklungsländern vorgebracht wird: Die Vorteile des kapitalistischen Handels, so sagen sie, sind in der Regel ungleichmäßig auf die Länder verteilt. Nur manchmal erwähnen sie, dass die Gewinne auch auf nationaler Ebene asymmetrisch verteilt und dabei die Mächtigeren begünstigt sind.
Solche kritischen Argumente wurden von internationalen Institutionen, die von den entwickelten Ländern dominiert werden, immer bestritten. Hier ist das institutionelle Dreigestirn aus Internationalem Währungsfonds, Weltbank und Welthandelsorganisation besonders zu nennen. Es dient als intellektuelle Quelle für die Befürwortung des Freihandels. Da nimmt es nicht Wunder, dass die drei – angetrieben von der Skepsis gegenüber dem Freihandel, die Trump entfachen konnte – nun erneut zusammengekommen sind, um einen »Bericht« zu verfassen, der die Vorzüge einer Welt ohne Einschränkungen für die grenzüberschreitenden Waren- und Dienstleistungsströme hervorhebt. Er wurde im September veröffentlicht und trägt den Titel ▸»Reinvigorating Trade and Inclusive Growth« (»Wiederbelebung des Handels und inklusives Wachstum«). Mit den Worten von WTO-Generaldirektor Roberto Azevedo (ironischerweise ein Brasilianer, den die Erfahrung eigentlich anderes gelehrt haben sollte):
»Der Handel war im Laufe der Jahre von entscheidender Bedeutung für die Anhebung des Lebensstandards und die Verringerung der Armut, aber es bleibt noch viel mehr zu tun. Viele WTO-Mitglieder erkennen an, dass in vielen Bereichen der Handelspolitik Verbesserungen notwendig sind, um mit den sich wandelnden Bedürfnissen ihrer Wirtschaft und ihrer Bevölkerung Schritt zu halten. Dieser Bericht ist ein willkommener Beitrag zu den laufenden Diskussionen über die Wiederbelebung des Handelssystems zum Wohle aller«.
Allerdings wäre jeder anspruchsvolle Leser des Berichts enttäuscht von seinen umständlichen, unbegründeten Aussagen (von Argumenten kann keine Rede sein). Der Bericht geht davon aus, dass »die Vorteile, die der Handel und eine Handelsreform für das Wirtschaftswachstum und die wirtschaftliche Integration bieten kann«, selbstverständlich seien. Und er kommt zu dem Schluss, dass die Welt in letzter Zeit beim Handelswachstum schlecht abgeschnitten habe, weil sich die »Reformen« bzw. die Liberalisierung des Handels verlangsamt haben. Der Bericht bekräftigt die Notwendigkeit, an »Handelsreformen« festzuhalten, beklagt aber, dass diese nur unzureichend auf den immer wichtiger werdenden Dienstleistungsbereich ausgedehnt wurden. Es wird argumentiert, dass die Öffnung von Bereichen wie dem elektronischen Handel den Lebensstandard heben und die Armut verringern würde, weil mittlere und kleine Unternehmen angeblich davon profitierten. Nicht erwähnt wird hier die Dominanz globaler Giganten wie Amazon und Walmart im E-Commerce und die Auswirkungen dessen auf den von kleinen Unternehmen geprägten Einzelhandel. Es fällt auf, dass nicht einmal versucht wird, die kritischen Argumente hinsichtlich der Verteilung der Handelsgewinne zu prüfen. Der Ton des Berichts ist der eines Predigers, der keine Notwendigkeit sieht, Nachweise und Beweise zu erbringen.
Man vergleiche dies mit dem konzeptionell viel reichhaltigeren und empirisch fundierteren »Trade and Development Report 2018« der UNCTAD, der den unumwundenen Titel ▸»Power, Platforms and the Free Trade Delusion« (»Macht, Plattformen und der Freihandelswahn«) trägt. Der Bericht stellt fest, dass im Zeitraum von Mitte der 1980er Jahre bis zur globalen Finanzkrise von 2008 ein erheblicher Teil des Anstiegs des Welthandels von den Entwicklungsländern getragen wurde, insbesondere von Ost- und Südostasien, wo auch die schneller wachsenden Volkswirtschaften liegen. Denn während die Liberalisierung zu freieren Kapital- und Technologieströmen führte, war Arbeit immer noch weitgehend unbeweglich. Das Kapital floss in einige wenige Entwicklungsländer, um Zugang zu einer Reserve billiger Arbeitskräfte zu erhalten - zunächst in Schwellenländer der zweiten Stufe wie Malaysia und Thailand und dann nach China. Infolgedessen machten diese Volkswirtschaften einen wachsenden Anteil an der globalen Produktion und am Export von Industrieprodukten aus. Der Süd-Süd-Handel nahm auch aufgrund der wachsenden Bedeutung der globalen Wertschöpfungsketten zu, wobei einzelne Entwicklungsländer als Teilproduzenten von Waren integriert wurden. Sie importierten Vorleistungen und Investitionsgüter und exportierten Halbfabrikate. So entfielen 2016 7 von 10 Dollar der von Entwicklungsländern exportierten Produktion auf Ostasien.
»Allein Asien machte etwa 88 Prozent der Bruttoexporte von Industrieerzeugnissen und 93 Prozent des Süd-Süd-Handels mit Industrieerzeugnissen aus, während allein auf Ostasien 72 Prozent von beidem entfiel.«
Darüber hinaus kam in den 1990er Jahren und danach ein Großteil der Exporte aus einem einzigen Land: China. Dies hatte auch Auswirkungen auf den Beitrag Chinas zum Produktionswachstum. Zwischen 1990 und 2016 stieg der Anteil der BRICS-Staaten an der Weltproduktion von 5,4 auf 22,2 Prozent. Wird China jedoch aus dieser Gruppe herausgenommen, so steigerten die verbleibenden Länder ihren Anteil nur von 3,7 auf 7,4 Prozent. Auch in anderen Bereichen zeichnet sich China als Ausnahme aus. Zwischen 1995 und 2014 sank in den meisten Entwicklungsländern der Anteil der inländischen Wertschöpfung am Wert ihrer Fertigwarenexporte, in Indien, Südafrika und Südkorea lag der Rückgang sogar bei 13 Prozent, 12 Prozent und 6 Prozent. Integriert in eine Kette von Importen, Verarbeitungen und Exporten wurde also immer weniger vom Wert der exportierten Ware als Einkommen im Inland gehalten. Der Wertschöpfungsanteil Chinas an den Exporten von Industrieprodukten aber stieg um 12 Prozent.
Die UNCTAD führt diesen markanten Unterschied auf die aktive Industriepolitik Chinas zur Steigerung der inländischen Wertschöpfung zurück. Es ist bekannt, dass es China trotz seiner Entscheidung, der WTO beizutreten, gelungen ist, ein hohes Maß an staatlicher Kontrolle seiner Exportentwicklung zu gewährleisten. Das führt dazu, dass die USA und ihre europäischen Verbündeten derzeit Kritik üben am »unfairen Handel« des Landes. Aber wie die entwickelten Länder schon in ihrer industriellen Frühzeit erkannt hatten und Trump es jetzt wiederholt: Die Idee, dass die Freihandelspolitik einem Land mehr Vorteile bringt, wie das Triumvirat aus IWF, Weltbank und WTO behauptet, lässt sich nicht durch Beweise belegen. Entscheidend scheint vielmehr eine Industriepolitik zu sein, die ausdrücklich darauf abzielt, die unausgewogenen Folgen der Teilnahme am Welthandel zumindest teilweise zu neutralisieren.
Ein solches industriepolitisches Eingreifen kann auch die inländische Verteilung der Wachstumsvorteile beeinflussen. Insgesamt zeigt sich, dass selbst wenn der Welthandel wächst, die Vorteile dieses Wachstums einigen wenigen globalen Unternehmen und ihren jungen »Geschäftspartnern« in Entwicklungsländern zugutekommen. Die Schätzungen der UNCTAD für 2014 zeigen, dass im Durchschnitt der Länder die Top-1-Prozent der exportierenden Unternehmen 57 Prozent der Warenausfuhren (ohne Öl und Dienstleistungen) ausmachten, die Top-5-Prozent mehr als 80 Prozent; die Top-25-Prozent der Unternehmen tätigten fast alle Exporte eines Landes. Damit verbunden war eine Umverteilung der Einkommen zugunsten des Kapitals und zu Lasten der abhängig Beschäftigten. Informationen aus der World Input-Output Database zeigen, dass der Anteil des Kapitals an der exportierten Wertschöpfung weltweit von 44,8 Prozent im Jahr 2000 auf 47,8 Prozent im Jahr 2014 gestiegen ist. Im Falle Indiens lagen die entsprechenden Werte bei 56,6 Prozent und 60,6 Prozent. In China hingegen stieg der Anteil der Arbeit von 43 Prozent auf 50,4 Prozent, während der Anteil des Kapitals von 57 Prozent auf 49,6 Prozent sank.
Vor diesem Hintergrund untersucht der Bericht der UNCTAD, wie im Bericht des Triumvirats vorgeschlagen, ob die wachsende Bedeutung von Dienstleistungen (insbesondere derjenigen, die mit digitalen Technologien verbunden sind oder durch diese ermöglicht werden) den Entwicklungsländern neue Möglichkeiten bietet. Das Ergebnis: Leider begünstigt auch hier die Kombination aus Marktmacht und Netzwerkeffekten (bei der alle Nutzer eines Netzwerks gewinnen, wenn die Anzahl der Nutzer steigt) »Winner-takes-all«-Ergebnisse. Das führt zur Dominanz einiger weniger Riesen, sei es in der Produktsoftware oder in Bereichen wie E-Commerce und digitalem Zahlungsverkehr. Der Zugang zu Daten, die beim Angebot kostenloser Dienste gewonnen werden, hat zu einem enorm wachsenden Geschäft geführt, bei dem diese Daten für kommerzielle Zwecke verwertet werden. Infolgedessen gehören IKT-Giganten heute zu den Top 100 der transnationalen Unternehmen, und bis 2015 machten 17 von ihnen ein Viertel der Marktkapitalisierung der Top 100 und fast ein Fünftel ihrer Gewinne aus. So kommt auch hier der Freihandel nur einigen Wenigen zugute.
Notwendig sind vor diesem Hintergrund drei Arten von Regulierungen: Kartellrechtliche Maßnahmen, die Monopole einschränken und wettbewerbsbeschränkende Handelspraktiken verhindern. Datenschutzgesetze, die eine informierte Zustimmung erfordern, bevor Daten über Verbraucher gesammelt und verwendet werden. Und Maßnahmen wie Datenlokalisierung und geregelte Übertragung, die die Monopolisierung von Daten durch transnationale Unternehmen und lokale Monopole verhindern. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass auch bei digitalen Diensten eine ähnliche Politik erforderlich ist wie bei der erfolgreichen späten Industrialisierung.
Die im UNCTAD-Bericht dargelegten, evidenzbasierten Argumente sind aufschlussreich. Sie zeigen, warum die Anhänger der Idee des Freihandels als Allheilmittel gegen Unterentwicklung lediglich die Opfer von Wahnvorstellungen sind. Die UNCTAD-Ausführungen helfen ferner zu verstehen, warum die Behauptungen des Freihandels-Dreigestirns nur ein Schwindel sind, der nicht durch Fakten belegt ist.
Der Artikel ▸erschien zuerst im Real World Economics Review Blog. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.
C.P. Chandrasekhar ist Professor am Zentrum für Ökonomische Studien und Planung der Jawaharlal Nehru University in Neu Delhi.