Wenn das Volk zum Problem wird - Liberalismus als Ideologie der Eliten
7. Januar 2016 | Johannes Simon
Kulturelle Liberalisierung, wirtschaftsliberale Öffnung und eine globalisierte Ökonomie verschwimmen zu einer Grundmetapher der Fortschrittlichkeit. Opposition gilt als rückständig und reaktionär.
Zu Hochzeiten der Griechenlandkrise gab es ein Motiv der deutschen Berichterstattung, das mit großer Besorgnis eine vermeintliche Nähe der SYRIZA-Regierung zu Russland feststellte. Einige Besuche von Tsipras in Moskaus gaben Anlass zu Spekulationen, Griechenland wolle sich im Tausch für finanzielle Hilfen einer Russischen Führung unterordnen.
Der wirkliche Grund für Tsipras Besuche lag vermutlich in genau jenem Sachverhalt, der die SYRIZA-Regierung ebenfalls dazu veranlasste, sich gegen die Handelssanktionen gegen Russland auszusprechen: Griechenland, mit Russland wirtschaftlich eng verflochten, ist – wie ganz Europa – entscheidend auf russische Energieimporte angewiesen und exportiert dorthin einen großen Teil seiner Agrarerzeugnisse. Gerade in Bezug auf letzteres hat Griechenland sehr unter den Sanktionen gelitten.
Doch Sorge bereitete nicht nur, dass Griechenland aus eigenem wirtschaftlichen Interesse die Einigkeit der europäischen Position gegenüber Russland in Frage stellte, oder dass es mit einem geopolitischen Schwenk zu Russland flirtete, um seine Verhandlungsposition zu stärken. Vielmehr wurde eine ideologische Affinität konstatiert, ob zwischen „griechischer und russischer Orthodoxie“ oder der SYRIZA-Regierung und dem „anti-westlichem“ Kurs Putins.
Unter der Überschrift „Im Netz der russischen Ideologen“ wurde zum Beispiel in der ZEIT versucht, im atemlosen Ton des Enthüllungsjournalismus eine Verbindung zwischen der SYRIZA-Regierung und rechten russischen Ideologen herzustellen. Eine besondere Rolle kam dabei – wenig überraschend – Alexander Dugin zu, dem albernen Prediger eines „Großrussischen Reiches“, der sich unter westlichen Journalisten große Beliebtheit erfreut, in Russland aber praktisch bedeutungslos ist.
Eine solche Verbindung gab es nicht. Die Informationen, auf die der Artikel basierte, waren schon länger bekannt gewesen. Doch erst im Kontext der Verhandlungen mit SYRIZA kam man auf die Idee, sie stellten eine Enthüllung dar. Alles, was sich aus den vorliegenden Tatsachen schließen lies, war, dass russische und griechische Oligarchen enge persönliche und geschäftliche Beziehungen unterhalten und der Führer der nationalistischen Partei ANEL, mit der SYRIZA koalierte, ideologisch russischen Nationalisten nahestand. Außerdem hatte Alexander Dugin einmal einen Vortrag an einer griechischen Universität gehalten, an der damals der Außenminister der SYRIZA-Regierung gelehrt hatte. Die Geschichte hatte keine Substanz, weshalb sie auch schnell verschwand und nie wieder erwähnt wurde.
Es ist bekannt, dass Russland rechtspopulistische Parteien in ganz Europa finanziell unterstützt. Warum aber kamen die ZEIT-Journalisten auf die Idee, SYRIZA, ein „Bündnis der Linksradikalen“, wäre Teil dieser Kategorie? Wieso schien es ihnen trotz der mehr als dürftigen Beweislage sinnvoll und naheliegend eine Verbindung zwischen SYRIZA und Putin zu ziehen?
Opposition als Rückständigkeit
Sieht man sich als den Träger eines unausweichlichen liberalen Fortschritts, der sowohl wirtschaftlicher wie kultureller Natur ist, erscheint jegliche Opposition als eine ebenso einheitliche Rückständigkeit. In einem in dieser Hinsicht typischen Artikel aus der ZEIT mit dem Titel „Die Linken entdecken den Nationalismus“ heißt es:
In Teilen der europäischen Linken radikalisiert sich der Diskurs, seit Alexis Tsipras im Juli einem neuen Hilfsprogramm und damit verbundenen Auflagen zugestimmt hat. Es entsteht ein linker Nationalismus, der die EU als kalte Vollstreckerin eines grenzenlosen Neoliberalismus anprangert. (…) Die Wiederherstellung eines nationalen Handlungsrahmens, in dem sie ihre eigenen wirtschaftspolitischen Vorstellungen durchsetzen können – das ist die Lehre, die sie aus der Euro-Krise und dem gescheiterten Versuch von Syriza, die EU auf links zu drehen, gezogen haben. Der linke Nationalismus ist im Kern ein rückwärtsgewandter, nostalgisch aufgeladener Souveränismus. Die Renationalisierung von Banken oder Betrieben, wie sie der Labour-Mann Corbyn fordert, geht Hand in Hand mit der Renationalisierung der Politik.
Es stimmt nun mal, dass sich in der neoliberalen Ära viele linke Absichten als eine Wiederherstellung der nationalen Souveränität formulieren. Ob es nun darum geht, bescheidene sozialdemokratische Errungenschaften gegen den Druck internationaler Kapitalmärkte zu verteidigen oder sich Länder der Dritten Welt dem von internationalen Organisationen aufgezwungenen neoliberalen Reformen, dem „Washington Consensus“, widersetzen.
Auch das Hauptargument von SYRIZA für ihr Recht, bestehende Abmachungen zu verletzen und unabhängig von europäischen Institutionen die interne Wirtschaftspolitik selbst zu bestimmen, war, dass die politische Souveränität Griechenlands ein Gut ist, dass über den meisten anderen steht. (Aus diesem Grund fand die griechische Regierung überraschende Verbündete unter Britischen Tories, wie denen vom The Telegraph, für die die Souveränität nationaler Parlamente heilig ist.)
Absurd ist es, daraus den Schluss zu ziehen, solche linken Anstrengungen der politischen Renationalisierung sein im Grunde dasselbe wie Rechtspopulismus, da beide schliesslich die Rückbesinnung auf die Nation als solidarische Gemeinschaft anstrebten. Denn für Linke ist es nicht die Nation selbst, der ein Wert inne liegt, sondern allein die Tatsache, dass nur in diesem Rahmen eine demokratische Einflussnahme auf wirtschaftspolitische Entscheidungen möglich ist. Anders ausgedrückt: Linken geht es um die Souveränität des Volkes, nicht der Nation.
Eine völlige Selbstverständlichkeit eigentlich. Wer zum Beispiel würde argumentieren, der Wiederstand gegen die internationalen Schiedsgerichte von TTIP wäre „linker Nationalismus“, nur weil sich darin eine Weigerung ausdrückt, die Souveränität nationaler Regierungen auf ein freischwebendes internationales Recht zu übertragen? Auch der oben zitierte ZEIT-Artikel muss widerwillig eingestehen, dass „der linke Nationalismus ein Argument im Mund [führt], das scheinbar über jede Kritik erhaben ist: die Demokratie.“
Alles was zählt, ist der liberale Mainstream
Die Gleichsetzung von rechtem und „linken Nationalismus“ ergibt sich aus einer ideologischen Wahrnehmung des politischen Feldes, das nur einen liberalen Mainstream kennt und alle Abweichungen als sein Gegenteil wahrnimmt. Die Kehrseite der vorgeblichen Einheit von multikultureller Liberalität und wirtschaftsliberaler Globalisierung ist dann die Gleichsetzung sozialdemokratischer Arbeitsmarktreformen mit reaktionärem Nationalismus.
Diese Einheit wird unter dem Begriff des „Populismus“ zusammengefasst. Gemeint ist eine verantwortungslose Nachlässigkeit politischer Eliten im Angesicht der niederen Impulse jener Teile der Bevölkerung, die sich, erschöpft vor zuviel Freiheit und Modernisierung, in die Nestwärme der nationalen Heimat und des Sozialstaats zurückziehen wollen. Menschen, die weder die Disziplin noch die federleichte kulturelle Souveränit besitzen, um sich in der Zukunft des globalen Wettbewerbs und der toleranten Multikulturalität zurechtzufinden.
Third-Way Sozialdemokraten, die sich seit den 90ern neoliberalen Reformen verschrieben haben, teilen das Grundproblem, oft einem Volkswillen gegenüber zu stehen, der viele dieser Reformen ablehnt. Auf diesen einzugehen, würde aber bedeuten, das Wohl des Landes populistischen Regungen zu opfern – einer Versuchung, der mit der höchsten Disziplin widerstanden werden muss. Die politische Elite tritt dann in eine paternalistische Beziehung zu der Bevölkerung: dessen aus der Schwäche geborenen Wünschen darf nicht nachgegeben werden, während sie gleichzeitig über die Unausweichlichkeit des eingeschlagenen Kurses aufgeklärt werden muss.
Die SPD hat diese Gipfel der Selbstbeherrschung erklommen und nicht zuletzt prinzipientreu an den Hartz-IV Reformen festgehalten. Und das, obwohl sie damit langfristig die eigene Position als eine der CDU ebenbürtige Volkspartei zerstört hat. Ein ähnliches Selbstopfer für die Sache war die feste Entschlossenheit des Establishments der Labour-Partei in England, sich trotz desaströser Wahlergebnisse einer Linkskorrektur, wie sie Jeremy Corbyn verkörpert, zu widersetzen. Das beste Beispiel aber ist die griechische PASOK: im völligen Gegensatz zum oft beklagten Typus des wendehalsigen Politikers, dem es nur um den Wahlerfolg und die eigene Karriere geht, hat diese traditionsreiche Partei ihre gesamte politische Existenz vernichtet, um einem höherem Ideal als dem Volkswillen zu dienen.
In einem Vorabdruck seines Buches „Die Unheilige Allianz“, dass die tiefen Gemeinsamkeiten der Rechten und Linken, v.a. im Bezug auf ihre Opposition zur europäischen Integration, zum Gegenstand hat, schreibt Anton Pelinka:
Die Wiedergeburt des byzantinischen, caesaropapistischen Staatskirchentums in der von der christlichen Orthodoxie geprägten Welt Osteuropas zeigt, wie resistent die Heilserwartungen sind: Sie haben in Russland, Rumänien, Bulgarien, Serbien und anderswo in Europa Jahrzehnte einer offiziellen atheistischen Erziehung ebenso überlebt wie die damit verbundene Repression des Religiösen. Die Kapitulation der marxistisch-leninistischen Erlösungsdoktrin ermöglichte die Renaissance einer Religion, die unter dem Deckmantel antireligiöser Aufklärung überlebt hatte und in Form eines nationalen, zumindest latent auch nationalistischen Erscheinungsbilds wieder auflebte. Das Bedürfnis nach einer “heiligen Sache”, nach einer Fahne, hinter der zu marschieren so viele bereit sind, erlaubt nahtlose Übergänge von ganz links nach ganz rechts. Der politische Messianismus kann die verschiedensten Formen des Extremismus annehmen.
Hier formuliert sich ein altbekanntes Klischee, dem zufolge pluralistische Demokratie von einer “ergebnisoffenheit” und politischem Agnostizismus gekennzeichnet ist, die im Gegensatz zu den “Ideologien” von Rechts und Links steht. Diese hätten die Lektionen des 20. Jahrhunderts nicht gelernt und weigerten sich ihre an Ersatzreligion grenzenden “master-narratives” von Klassenkampf und Nation aufzugeben. Sie schlagen den pluralistischen Skeptizismus in den Wind, der notwendige Voraussetzung einer offenen Gesellschaft ist – und sind damit schon halb beim Gulag angekommen.
Die lange Tradition des “liberalen Rassismus”
Interessanter aber ist, was der Autor über die demographische Basis dieser verschiedenen politischen Kulturen zu sagen hat. Dem obigen Absatz zufolge sind die slawischen Völker noch nicht bereit für die individualisierte Freiheit und metaphysische Unbehaustheit, die nunmal notwendiger Bestandteil der liberalen Demokratie, ja der Moderne schlechthin sind. Statt die konkreten historischen und politischen Entwicklungen in den Blick zu nehmen, die neben der desaströsen wirtschaftlichen Entwicklung in vielen ehemals kommunistischen Ländern eine echte demokratische Entwicklung blockiert haben, wird von der charakterlichen Reife dieser Völker gesprochen.
Das ist eine Argumentation, die an die lange Tradition des “liberalen Rassismus” errinert, die minderwertige Kulturen und Völker als noch nicht bereit für die Härte und Verantwortung der Selbstverwaltung beschreibt, um ihre Beherrschung durch die Eliten der Metropole zu rechtfertigen. Mit ähnlichen ideologischen Strategien wurde in der unrühmlichen Geschichte des Liberalismus vor der zu raschen politischen Emanzipation der niederen Schichten gewarnt, denen die Bildung und das gefestigte Temperament fehle, um verantwortungsbewusste politische Entscheidungen zu treffen.
Dieser “liberale Rassismus” hat natürlich wenig mit dem Denken heutiger Eliten oder mit Pelinkas Argument zu tun. Es existieren aber strukturelle Ähnlichkeiten. Wie eh und je gibt es Eliten, deren Handlungsfreiheit bei der Verfolgung ihrer politischen Projekte durch demokratische Widerstände eingehegt wird. Etwaige Parallelen ergeben sich also nicht aus einem überhistorischem kulturellem Dünkel, sondern vielmehr aus einer strukturell ähnlichen materiellen Situation.
Liberale Eliten stehen vor dem Problem, den Grundrahmen des formal egalitären Liberalismus mit ihrem Bedürfnis in Einklang zu bringen, die entscheidenden politischen Entscheidungen unter ihresgleichen auszumachen. Auch heute noch treibt sie die Angst um, die unmündige Mehrzahl könnte mit ihren uninformierten Forderungen nach einem zu hohen Mindestlohn oder ihrer schwächlichen Weigerung, schmerzhafte aber notwendige Reformen durchzustehen, das Fundament der freien Gesellschaft ins Wanken bringen.
Eine Komponente, die sich aus der Logik dieser Situation ergibt, ist das Ausgehen von einem eigenen idealisierten Selbstbild, das als Negativ auf das Objekt der Furcht projiziert wird um vor einem zu ungezügelten Ausdruck seines Willens zu warnen. Auch diese Selbstbilder sind historischem Wandel ausgesetzt. Aus Theodor Roosevelt sprach noch das robuste Selbstbewusstsein der angelsächsischen Rasse, Träger der freiheitlichen Zivilisation zu sein, als er bedauernd feststellen musste, die Phillipinen sein noch nicht bereit für die “rigors of democracy” und auf die zivilisierende Führung der USA angewiesen. Im fortgeschrittenen Neoliberalismus fußt der Führungsanspruch eher auf einer allgemeinen Fortschrittlichkeit in politischen, ökonomischen und kulturellen Dingen, einer Melange aus wirtschafswissenschaftlichem Expertenwissen und kosmopolitischer Toleranz.
Ein Konstrukt namens “Unterschicht”
Ein wichtiger Bestandteil der ideologischen Fabrikation der “Alternativlosigkeit”, die den politischen Eliten freie Hand für neoliberale Reformen gegeben hat, war ein ideologisches Konstrukt namens “Unterschicht”, das soziale Probleme und Arbeitslosigkeit aus dem Feld der Politik entfernte und in den charakterlichen Defiziten dieser Bevölkerungsgruppe verortete.
Amerikanische progressives, die den neoliberalen Konsens in den Grundzügen übernommen haben und sich vor allem über ihre Fortschrittlichkeit in social issues (multikulturelle Toleranz, gay rights, zahme Formen des Feminismus…) von ihrem politischen Gegner abgrenzen, haben den konservativen Unterschichtsdiskurs in den Grundzügen mitgetragen. Darüber hinaus haben sie eine eigene Version dieses Phantasmas einer fremdartigen Bevölkerungsgruppe, das sich aus gleichen Teilen aus Angst und Verachtung zusammensetzt.
Während sich alle gemeinsam an gruseligen Geschichten über den Zusammenbruch der Zivilisation in den Innenstädten (d.h.: den Ghettos der Schwarzen) ergötzen, haben liberals anhand der weißen Unterschicht eine weitere Option für gesellschaftspolitische Pornographie. Von Westborough-Baptist Church bis Sarah Palin kann man sich guten Gewissens seiner Verachtung hingeben, da man erstens auf der richtigen Seite steht und zweitens die Leute, um die es geht, die Rednecks und Kreationisten, der ignorante, stockkonservative White Trash, wahrlich keine Sympathieträger sind.
Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die Besonderheit des deutschen Unterschichtsdiskurses, in dem die konservativen und die liberalen Fantasien viel enger zusammenspielen als in Amerika. Das wohl prominenteste deutsche Beispiel für diesen Diskurs, Deutschland schafft sich ab, hat zwei Bevölkerungsgruppen zum Gegenstand: Muslime und die “deutsche” Unterschicht. Beide teilen natürlich die grundlegende Sünde der genetisch bedingten niedrigen Intelligenz, beziehungsweise – in der moderaten nicht-Sarrazin Version – des Bildungsversagens und der Schwierigkeiten, sich in den Arbeitsmarkt zu “integrieren”.
Doch die kulturelle Beigabe, die notwendiger Teil des Unterschichtsdiskurses ist, d.h. die allgemeinen nicht-bürgerlichen Verhaltensweisen, in denen sich die Ursünde der fehlenden Disziplin äussert, ist in den beiden Fällen genau entgegengesetzt.
Während es bei der einheimischen Unterschicht, der klassischen konservativen Fantasie folgend, die moralische Verwahrlosung ist, das bemängelt wird, ist es bei Muslimen das Gegenteil, nämlich ein Exzess der traditionellen Moralvorstellungen. Die Minderwertigkeit der Muslime drückt sich in ihrem Verharren in einer rückständigen Kultur und einer fehlenden kosmopolitischen Souveränität aus.
Beides aber, Verrohung und Rückständigkeit, wird als Symptom der Verwahrlosung jener wahrgenommen, die nicht in der Lage sind, es mit der Härte des eigenverantwortlichen Mittelschichtslebens aufzunehmen.
Mit der wachsenden Bedeutung des Rechtspopulismus in Deutschland, wird dieses Muster zunehmend auch auf die “deutsche” Unterschicht angewandt. Zwar war die unterschwellige Vorstellung, sogenannte Bildungsferne drücke sich auch in kultureller Rückständigkeit aus, zum Beispiel was Geschlechterrollen angeht, schon immer vorhanden.
Doch seit PEGIDA und den brennenden Flüchtlingsheimen wird eine direktere Verbindung zwischen sozialer Schicht und dem neuen Rechtspopulismus gezogen, der klar von der respektableren, weil bürgerlichen Neuen Rechten a la Sarrazin unterschieden wird. Nicht nur wird Fremdenfeindlichkeit und Ressentiment in den “hässlichen Deutschen”, der ungebildeten, ostdeutschen Landbevölkerung lokalisiert, um das eigene Selbstbild der Weltoffenheit zu bewahren, vielmehr sei es die charakterliche Minderwertigkeit dieser Menschen selbst, die den Rechtspopulismus erzeugt.
Die Autorin und Psychotherapeutin Astrid von Friesen, die sich sonst vor allem um die katastrophalen Folgen des Feminismus kümmert, hat in einem Kommentar für Deutschlandradio Kultur dieses meist unterschwellig vorhandenen Denken explizit formuliert. Ihr zufolge haben den Osten all jene verlassen, die schon zu DDR Zeiten den Mut und die Initiative aufgebracht hatten, zu fliehen oder nach der Wende im Westen oder im Ausland einen wirtschaftlichen Neuanfang machen konnten. Vor allem gingen die “gut ausgebildeten jungen Frauen.” Wer übrig blieb, vor allem “wütende junge Männer …, die schlechtere Schulabschlüsse haben”, war nicht in der Lage oder nicht willens, sich durch eigene Initiative in der großen neuen Welt zurechtzufinden.
Die Zurückgebliebenen sind wütend, weil sie Verlierer sind, allerdings nicht weil es ihnen so schlecht geht, sondern aus Ressentiment gegenüber denjenigen, die sich erfolgreich und souverän in der komplexen und anspruchsvollen Gegenwart zurechtfinden. Und es ist nicht nur Mobilität und Intelligenz die ihnen fehlt, sondern die emotionale Reife, die es braucht um in unserer individualisierten, liberalen Gesellschaft zu existieren. Deshalb suchen sie Schutz in einem behütenden, reaktionären Nationalismus und “retten sich in eine Gruppe, um ihr Selbstwertgefühl aufzublasen. … Sie verhalten sich damit wie Kinder, die emotional hungrig blieben und innerlich unbeheimatet.”
Wie Pelinkas “Russland, Rumänien, Bulgarien, Serbien” und “der linke Nationalismus”, der ja ein “rückwärtsgewandter, nostalgisch aufgeladener Souveränismus” ist, sind sie getrieben von ihrer Schwäche und Unfähigkeit, sich in der anspruchsvollen globalisierten Gegenwart zurechtzufinden.
Tiefsitzendes Misstrauen gegenüber der Demokratie
Wenn hier von Ideologie gesprochen wird, wird damit keine Lüge gemeint, sondern Grundmuster der Wahrnehmung, die determinieren, wie einem die gesellschaftliche Wirklichkeit erscheint. Die Funktion von Ideologie ist nicht Manipulation, sondern das verständlich machen der vielfältigen sozialen Phänomene – ein Ordnen und Strukturieren, dass die Wirklichkeit in Einklang mit Selbstbildern, Interessen und politischem Begehren bringt.
Womit gesagt werden soll: Man kann es den Progressiven Amerikas nicht verübeln, wenn sie mit Schrecken und Verachtung auf den Karnival der Palins, Trumps und Nixons blicken. Auch will man keinesfalls aus wohlmeinender Rücksichtnahme darauf verzichten, die verwahrlosten PEGIDA-Menschen Deutschlands als das zu bezeichnen, was sie sind. Doch die Art, auf die über die Natur gewisser Bevölkerungsgruppen gesprochen wird und welche Schlüsse daraus gezogen werden, hat eine – zumindest symptomatische – politische Bedeutung.
Welche Haltung drückt sich in der weit verbreiteten Ansicht aus, reaktionäre Haltungen wären meistens das Ergebnis eines geringen Bildungsstandes und sowieso eher in der Unterschicht zuhause?
Es drängt sich die Vorstellung eines politischen Diskurses auf, in dem liberale Fantasien und Ängste von den charakterlichen Defiziten des Volkes die Funktion der konservativen Fantasie übernehmen kann oder aber beide verschmelzen. Eine solche Verzerrung der Wahrnehmung, in der kulturelle Liberalisierung mit einer wirtschaftsliberalen Öffnung hin zu einer globalisierten, post-nationalen Ökonomie gleichgesetzt wird und beides zu eine Grundmetapher der Fortschrittlichkeit verschwimmt, kann im fortgeschrittenen Neoliberalismus Machtansprüche und Privilegien legitimieren, sie als vernünftig und notwendig erscheinen lassen.
Man bezahlt einen Preis dafür, wenn man so denkt und wenn er nur daraus besteht, konservative Politik nicht gebührend ernst zu nehmen und sie als bedauerliche Rückständigkeit abzutun, die durch erzieherische Massnahmen behoben werden kann. Es ist das tiefsitzende Misstrauen gegenüber dem frei ausgedrückten Willen der Massen – der Demokratie – das humanitär gesinnte Liberale, Neoliberale Eliten und autoritäre Neokonservative heute eint.
Und dann ist es auch irgendwann egal, ob das, wie im Falle der Konservativen einem tiefsitzenden Instinkt entspricht oder, wie zum Teil im Falle der Linksliberalen, das Resultat von jahrzehntelanger politischer Resignation ist.
Dieser Artikel erschien zuerst im Blog Le Bohèmien. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung. Dieser Text ist von der CC-Lizenz gemäß Impressum ausgeschlossen; das Zitieren und das Verlinken des Textes ist erlaubt, nicht aber das Vervielfältigen/Kopieren.
Johannes Simon studiert Nordamerikastudien und Philosophie an der Freien Universität Berlin, mit Studienaufenthalten in New Orleans und Madrid. Zudem schreibt er gesellschaftskritische Essays.