Wie die staatliche Unterfinanzierung des Pflegesektors informelle und prekäre Arbeit begünstigt
4. Dezember 2014 | Helena Müller
Das jeweilige Gesundheits- und Pflegesystem hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes: Letztere kann negativ beeinflusst werden, wenn Pflegebedürftige in erheblichem Ausmaß durch Angehörige gepflegt werden müssen. Obwohl der geschilderte Zusammenhang weitestgehend unbestritten ist, hält die Bundesregierung an einem konservativen Pflegesystem fest, das den Bedarf an Pflegekräften schon heute nicht mehr decken kann. Geplante Neuerungen ab dem Jahr 2015 werden die Lage nur geringfügig verbessern und vieles komplizierter machen. Das Problem der weit verbreiteten informellen und prekären Arbeit im Pflegebereich werden sie nicht beheben.
Ab 2015 wird der Beitragssatz zur Pflegeversicherung um 0,3 Prozentpunkte steigen, damit die erhöhten Leistungsausgaben finanziert und Rücklagen in einem Vorsorgefonds gebildet werden können. Die Mittel im Vorsorgefonds sollen helfen, die Pflege der geburtenstarken Jahrgänge zu finanzieren. Trotz dieser Fondsmittel wird schon im Jahr 2030 mit einer Finanzierungslücke zwischen 1,7 und 4 Milliarden Euro gerechnet.
Bereits jetzt beurteilen 55 Prozent der Deutschen die ambulante Pflege als zu teuer, und sogar 75 Prozent sehen Altenheime als unbezahlbar an (Heintze 2013). Aus diesem Grund hat sich ein großer informeller Sektor der 24-Stunden-Betreuung in Privathaushalten herausgebildet, der vom Staat weitestgehend toleriert wird. Zudem hat sich im Bereich der Pflege ein kritischer Niedriglohnsektor mit fragwürdigen Arbeitsbedingungen etabliert: Niedriglohnbeschäftigung ist seit 1995 um 45 Prozent angestiegen, dies umfasst insbesondere ungeregelte Beschäftigungsverhältnisse und Teilzeitbeschäftigung. Längst sind Vollzeitbeschäftigte im Pflegesektor in der Minderheit. Schon jetzt fehlen qualifizierte Pflegekräfte, was mehreren Faktoren geschuldet ist, insbesondere aber der fehlenden Anerkennung und Professionalisierung. Diese angespannte Situation wird sich in den kommenden Jahren noch verschärfen, ohne dass die Politik hierauf auch nur im Ansatz angemessen reagiert.
Konservatives System versus demografische Entwicklung
Das konservativ geprägte deutsche Pflegesystem beruht nach wie vor darauf, dass die Leistungserbringung zu einem großen Teil durch Angehörige erfolgt. Die Pflegeversicherung gewährt den Versicherten je nach Pflegestufe unterschiedliche Leistungen. Mit diesem Geld wird stationäre oder ambulante, häusliche Pflege finanziert: So können ambulante Pflegedienste oder Angehörige, Nachbarn usw. für die Pflege bezahlt werden. Der tatsächlich bestehende Bedarf kann durch die Mittel der Pflegeversicherung allerdings in keinem Fall finanziert werden.
Generell beruht das konservative, familienorientierte Pflegesystem auf Vorrausetzungen, die nicht mehr gegeben sind: Die (meist weiblichen) Angehörigen sind nicht in der Lage, sich um ihre pflegebedürftigen Familienmitglieder zu kümmern. Gründe hierfür sind unter anderem eine erhöhte Erwerbstätigkeit von Frauen, die Alterung der Gesellschaft aufgrund von niedrigen Geburtenraten und alternative Formen des Zusammenlebens.
Aufgrund der demografischen Veränderungen wird das Erwerbspersonenpotential nach 2015 drastisch sinken. Die Zahl der Über-80-Jährigen dagegen wird sich von derzeit 4 Millionen Menschen bis zur Jahrhundertmitte verdreifachen. Zusätzlich werden die Geburtenraten möglicherweise weiter sinken.
Durch gesellschaftliche Rückkoppelungseffekte verschlechtert sich die Pflegesituation im deutschen Pflegesystem weiter: So führt Cornelia Heintze (2013) in einem Vergleich mit dem Pflegesystem in Skandinavien aus, dass familienbasierte Pflegesysteme in hoch entwickelten Gesellschaften niedrigere Geburtenraten und eine geringere Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt hervorbringen. Hinzu kommt, dass Personen, die Verwandte pflegen, ein höheres Risiko haben, selbst zu erkranken und zum Pflegefall zu werden („Pflege-Falle“). Vor diesem Hintergrund steigt der Bedarf an öffentlichen Gesundheitsgütern kontinuierlich. Durch die fehlende Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wegen geringer Löhne und der geringen Wertschätzung der Pflegeberufe fehlen schon heute Pflegekräfte in ambulanten und stationären Einrichtungen. Stattdessen wandern viele Qualifizierte mit Aussicht auf bessere Chancen im Beruf ins Ausland ab.
Fehlende Pflegekräfte
In Hessen lag der Pflegekräftemangel im Jahr 2012 schon bei 19,4 Prozent, 2030 wird er nach einer Prognose der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhauseCoopers (PwC) auf 32,5 Prozent steigen (PwC 2012). Auch bundesweit zeichnet sich für die Pflege ein erschreckender Trend ab: 2020 werden laut der zitierten Studie bereits 212.000 Pflegekräfte fehlen, und diese Zahl wird bis zum Jahr 2030 auf 360.000 ansteigen. Der von PwC ins Spiel gebrachte Vorschlag, das Problem durch Anhebung der Wochenarbeitszeit der Pflegekräfte von 38,5 Stunden auf 49 Stunden (!) zu mildern, erscheint angesichts der Arbeitssituation in der Pflege absurd. Pflegekräfte arbeiten schon jetzt häufig unter extremen physischen Belastungen durch das Heben und Tragen der PatientInnen und durch fehlende Hilfsmittel vor allem im ambulanten Bereich. Hinzu kommen psychische Belastungen, die etwa durch Stress und inhumane Vorgaben (Stichwort „Minutenpflege“) hervorgerufen werden. Es ist deshalb kein Wunder, dass der psychische Gesundheitszustand bei Pflegekräften um zwölf Prozent schlechter ausfällt als im Durchschnitt der berufstätigen Bevölkerung. Problematisch ist auch die Arbeitsverdichtung: So ist die Anzahl der Behandlungsfälle pro Pfleger seit 1995 um mehr als 21,6 Prozent gestiegen (Goldschmidt/ Hilbert 2009). Aufgrund des sich abzeichnenden Fachkräftemangels werden sich die Rahmenbedingungen für das Pflegepersonal zusätzlich verschlechtern, was wiederum den Job unattraktiver macht und das Risiko eines Fachkräftemangels noch weiter erhöhen kann. Auch die Abwerbung qualifizierter Pflegekräfte aus dem Ausland gestaltet sich schwierig, da Pflegekräfte fast überall besser bezahlt werden als in Deutschland, in Skandinavien erhalten sie sogar die doppelte Entlohnung.
Pflegearbeit: noch immer vornehmlich weiblich besetzt
Pflegearbeit, formell wie informell, ist in Deutschland eine traditionell geschlechtsspezifische Arbeit. Getragen wird dies unter anderem von der Annahme, Frauen wären besonders empathisch, wobei die Paradoxien im Pflegeberuf deutlich werden: Es besteht aus einem ambivalenten Gefüge von Liebe und Fürsorge sowie dem Spannungsverhältnis zwischen den Bedürfnissen der Pflegebedürftigen und den ökonomischen Anforderungen des Sozial- und Gesundheitssystems. Das kleinbürgerliche Ideal des männlichen Familienernährers wird noch immer durch Mechanismen wie strukturellen Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt, das Ehegattensplitting oder jüngst die „Herdprämie“ gestützt.
Die Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt ist zwar ein Indikator des gesellschaftlichen Wandels, gestaltet sich bei näherer Betrachtung jedoch schwierig. So sind Frauen noch immer häufiger in atypischen Beschäftigungsfeldern zu finden als Männer. Nur ein Viertel der Frauen arbeitet mehr als 40 Stunden pro Woche und jede fünfte Frau arbeitet weniger als 19 Stunden pro Woche (bei den Männern sind es nur vier Prozent). Besonders Westdeutschland ist von dieser traditionellen Arbeitsteilung geprägt. Neun Prozent der Frauen gehen keiner Lohnarbeit nach. Pflegearbeit wird mit gut 86 Prozent weit überwiegend von Frauen ausgeübt, davon in Westdeutschland 70 Prozent in Teilzeit. Der Hauptgrund liegt dabei noch immer in der Unvereinbarkeit von Beruf und Familie. Um hieran etwas zu ändern, müssten Angebote zur Kinderbetreuung und die Rückkehrmöglichkeiten nach Schwangerschaft und Elternzeit ausgebaut werden.
Steigender informeller Sektor
Durch die im Rahmen der Pflegeversicherung geschaffene Möglichkeit, Pflegegeld zu beziehen und die Pflege selbst zu organisieren, hat sich ein europaweiter informeller Sektor in Privathaushalten gebildet: Das frei verfügbare Pflegegeld wird zur Beschäftigung migrantischer Pflegekräfte genutzt. Die Alternative Altersheim wird in der öffentlichen Debatte noch immer skandalisiert und ist meist teurer als die Betreuung durch eine Migrantin aus Osteuropa. Vor allem die Mittelschicht bedient sich häufig dieses Modells. So machen die staatlichen Pflegegeldzahlungen und ein fehlendes gutes öffentliches Pflegesystem die Beschäftigung von Migrantinnen und Migranten erst möglich. Helma Lutz, die sich als führende Soziologin mit dem Thema Pflege und Migration auseinandersetzt, geht davon aus, dass ca. 200.000 OsteuropäerInnen in deutschen Haushalten leben, die von einer zweifachen Illegalität betroffen sind: Zum einen durch ihr illegales Arbeitsverhältnis und zum anderen durch ihren illegalen Aufenthalt (Larsen et al. 2009).
Zugang zu migrantischen Pflegekräften finden ArbeitgeberInnen durch Internetagenturen, die sich in einer rechtlichen Grauzone bewegen. Hierbei scheinen sie sich wenig dafür zu interessieren, ob die Migrantinnen über eine pflegerische Ausbildung verfügen, allein die Tatsache der Mutterschaft oder übereinstimmende kulturelle bzw. religiöse Ansichten machen sie häufig zu einer geeigneten Kandidatin für die Pflege eines/einer Angehörigen (Lutz/Palenga-Möllenbeck 2010).
Diese Formen von Schwarzarbeit sind äußerst problematisch. Zum einen sind gerade irreguläre („illegale“) MigrantInnen besonders ausbeutbar, weil sie in ständiger Angst vor Entdeckung leben müssen. Für schwarzarbeitende Pflegekräfte herrschen durch drohende Lohnprellerei, sexuelle Belästigung, physische oder psychische Gewalt und nicht zuletzt Abschiebung und Ausbeutung äußerst prekäre Arbeitsbedingungen. Diese Menschen (meist Frauen) leben in einer Art „Schattenexistenz“ ohne Zugang zu Interessenvertretungen wie Gewerkschaften. Privathaushalte sind ein bevorzugter Rahmen für undeklarierte Arbeitsverhältnisse, da der Schutz der Privatsphäre Schutz vor Kontrollen bedeutet.
Durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Europäischen Union gibt es zwar die Möglichkeit für die Bürgerinnen und Bürger aus osteuropäischen EU-Staaten, legal in Deutschland zu arbeiten. Ausbeuterisch sind allerdings auch diese Arbeitsverhältnisse: Tarifliche Bezahlung (oder zumindest die Einhaltung von Mindestlöhnen) sowie die Einhaltung von Arbeitszeitvorschriften sind die absolute Ausnahme, 24-Stunden-Pflege ist die Regel. Scheinselbständigkeit ist weit verbreitet. Diese Arbeitsverhältnisse sind vor allem auch Ergebnis des Gefälles bei Löhnen und Arbeitsbedingungen innerhalb der EU.
Vorbild Skandinavien – Hohe Investitionen bedeuten mehr Wachstum
Die Probleme des deutschen Pflegesystems müssten viel grundlegender angegangen werden. In Deutschland spielt der Staat als Arbeitgeber im Pflegebereich kaum eine Rolle. Ambulante Pflegeinrichtungen werden nur zu knapp zwei Prozent von öffentlichen Anbietern betrieben, es dominieren mit fast 60 Prozent die privaten vor den frei-gemeinnützigen Anbietern mit rund 40 Prozent (Goldschmidt/Hilbert 2009). Der Pflegebereich zeigt, dass die privatwirtschaftliche Erbringung von Dienstleistungen der Daseinsvorsorge keine Garantie für höhere Effizienz und Effektivität ist.
„Das „familienbasierte Pflegesystem“ korrespondiert mit dem ‚konservativen Wohlfahrtsregime’; seine Kennzeichen sind: Vorrang der informellen vor der professionellen Pflege; geringer Umfang der öffentlichen Finanzierung; ein enger Pflegebegriff und eine zersplitterte, unübersichtliche Struktur mit schwer zugänglichen Leistungen [...]“ (Heintze 2013, S. 6).
Im Gegensatz dazu steht das Service-basierte Pflegesystem in Skandinavien für hohe staatliche Investitionen und die Ausweitung des professionellen Pflegesystems. Die Kosten werden größtenteils durch die gesamte Gesellschaft getragen, es gibt einen niedrigschwelligen Zugang zur Pflege und eine starke Gewichtung auf Prävention. Private Anbieter spielen eine nachrangige Rolle. Die Personaldichte ist etwa drei- bis viermal so hoch wie in Deutschland. Um die Pflegetätigkeit dem medizinischen Beruf anzugleichen, wurde der Pflegeberuf ausgebaut und professionalisiert, was gleichzeitig bessere Löhne, höheres Ansehen und bessere Pflege bedeutet. Das macht Skandinavien auch im Ausland für qualifizierte Pflegekräfte attraktiv. So haben etwa 70-90 Prozent der in der Krankenpflege Beschäftigten einen Migrationshintergrund. Die Vollzeit-Erwerbstätigkeit von Frauen liegt in Skandinavien mit zwei Dritteln sehr hoch, nur zwei Prozent der Frauen gehen keiner Lohnarbeit nach. Demnach ist der Arbeitsmarkt kaum von atypischen Arbeitsformen wie Teilzeitarbeit oder Minijobs geprägt. Außerdem liegt die Geburtenrate durch die gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf deutlich über der deutschen (PwC 2012).
Hohe Investitionen in den Pflegesektor bringen also gut bezahlte, qualifizierte Arbeitsplätze, die für Wachstum und einem spürbaren Anstieg der Lebensqualität in der Gesamtgesellschaft sorgen. Von dem offensichtlich überlegenen Weg der skandinavischen Länder könnte Deutschland lernen – hierzu müssten aber soziale Dienstleistungen die Anerkennung erfahren, die sie verdienen.
Literaturverzeichnis
- Christa Larsen, Angela Joost, Sabine Heid (Hg.) (2009): Illegale Beschäftigung in Europa. Die Situation in Privathaushalten älterer Personen. München: Rainer Hampp Verlag.
- Goldschmidt, Andreas J.W./ Hilbert, Josef (Hg.) (2009): Gesundheitswirtschaft in Deutschland. Die Zukunftsbranche. Wegscheid: Wikom.
- Heintze, Cornelia (2013): On the Highroad – 
The Scandinavian Path 
to a Care System for Today. A Comparison between Five Nordic Countries and Germany. WISO-Diskurs Nov. 2013. Wiesbaden: Friedrich-Ebert Stiftung.
- Lutz, Helma/ Palenga-Möllenbeck, Ewa: Care-Arbeit, Gender und Migration. Überlegungen zu einer Theorie der transnationalen Migration im Haushaltsarbeitssektor in Europa. In: Apitzsch, Ursula/ Schmidbaur, Marianne (Hg.) (2010): Care und Migration. Die Ent-Sorgung menschlicher Reproduktion entlang von Geschlechter- und Armutsgrenzen. Opladen: Budrich Verlag, S. 143-162.
- PwC (2012): 112 – und niemand hilft. Frankfurt am Main/Darmstadt.
- Ranscht, Anja/ Ostwald, Dennis A. (2006): Potenziale der Gesundheitswirtschaft in der Rhein-Main Region. Technische Universität Darmstadt.
Dieser Artikel erschien zuerst in WISO-Info 3 (2014).
Helena Müller ist Politikwissenschaftlerin und als Gewerkschaftssekretärin beim DGB-Bezirk Hessen-Thüringen zuständig für Bildung und Gleichstellung.