Wie man die Benachteiligung von Frauen kleinrechnen kann, oder: Die Unstatistik als Unstatistik
10. Juni 2016 | Patrick Schreiner
Sozialwissenschaftliche Methodik ist nie frei von normativen Annahmen und politischen Bezügen. Sie ist nie neutral. Ein Beispiel, wie man mit der Begründung sozialwissenschaftlicher (statistischer) Methodik eine politische Aussage unpolitisch erscheinen lassen kann, findet sich in der „Unstatistik des Monats“ vom 31. März.
Einmal pro Monat veröffentlichen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer und RWI-Vizepräsident Thomas Bauer ihre „Unstatistik des Monats“. Damit wollen sie sowohl statistische Zahlen als auch deren Interpretation kritisch hinterfragen – nicht selten zu Recht, aber immer mit einer gewissen liberal-konservativen Schlagseite.
Im März befasste sich Bauer mit dem so genannten „Gender Pay Gap“. Ein in der Tat viel diskutiertes Thema: Gemeint ist der deutliche durchschnittliche Verdienstunterschied zwischen Männern und Frauen. Über alle Berufe, Altersgruppen, Herkünfte usw. hinweg betrug er laut Equal-Pay-Day-Kampagne im vergangenen Jahr 21,6 Prozent.
Bauer – und andere – betonen nun allerdings, dass der Gender Pay Gap um strukturelle Unterschiede bereinigt werden müsse. Nur so könne der tatsächliche Verdienstunterschied zwischen Männern und Frauen seriös beziffert werden. Ihr Einwand ist ein methodischer: Rechne man jene Effekte heraus, die dadurch entstünden, dass Frauen häufiger als Männer in Niedriglohn-Branchen tätig seien und häufiger in Teilzeit arbeiteten, dann bliebe vom Gender Pay Gap nur noch ein kleiner Rest übrig. Bauer gibt fünf Prozent an.
In gegebenen Berufen verdienen Frauen nicht 21,6 Prozent, sondern um die 5 Prozent weniger als Männer. Das ist zwar gleichfalls ungerecht, aber weit weniger extrem. Die 21,6 Prozent resultieren vor allem daraus, dass Frauen häufiger in schlecht bezahlten Berufen und in Teilzeit arbeiten.
Den Wert von 21,6 Prozent um den Effekt „Teilzeitarbeit“ und „schlecht bezahlte Berufe“ zu bereinigen, ist allerdings nur dann sinnvoll, wenn die schlechtere Bezahlung von Teilzeitstellen und in bestimmten Berufen nicht direkt oder indirekt mit dem Umstand zusammenhängen, dass dort überwiegend Frauen tätig sind. Ein solcher Zusammenhang ist allerdings durchaus anzunehmen:
- Es gibt Berufe, die „traditionell“ als Frauenberufe gelten und die deshalb schlechter bezahlt werden als vergleichbare Männerberufe.
- Es gibt Tätigkeiten, die „traditionell“ als Dazuverdiener-Tätigkeiten gelten und die deshalb schlechter bezahlt werden; angesichts eines nach wie vor auf den Mann als Hauptverdiener konzentrierten Familienmodells führt dies dazu, dass vor allem Frauen dort tätig sind.
- Dies gilt genauso für Teilzeit-Stellen.
Man muss diese Sichtweise nicht teilen. Aber ganz gleich, ob man sie teilt oder nicht: Man denkt und argumentiert politisch und normativ.
Normativ und politisch argumentieren damit sowohl die Equal-Pay-Day-Kampagne als auch Bauer: Erstere, weil sie den Gender Pay Gap als umfassenden Indikator für jede direkte und indirekte Benachteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt versteht. Bauer, weil er die systematisch schlechtere Bezahlung in typischen „Frauenberufen“ und in Teilzeit mindestens ausblendet. Unredlich ist gleichwohl, dass letzterer seine Position nicht als politisch und normativ kennzeichnet, sondern als methodisch unterfüttert und „objektiv“ verkaufen will.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.