Wie Wirtschaftsminister Altmaier einen genehmen Lobbyverband retten will
17. Dezember 2020 | Patrick Schreiner
Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) steht nach dem erzwungenen Austritt einer IHK und dem drohenden Austritt weiterer vor dem Aus. Wären da nicht Peter Altmaier und die Große Koalition.
Jeder und jede hat in einer Demokratie das Recht, die eigenen Interessen zu vertreten. Und jeder und jede kann sich dazu mit anderen zusammenschließen. So vertreten Gewerkschaften die Interessen abhängig Beschäftigter (und Soloselbständiger), Unternehmensverbände die Interessen von Unternehmen, Arbeitgeberverbände die Interessen von Arbeitgebern, der Deutsche Olympische Sportbund die Interessen von Sportlerinnen und Sportlern und der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland die Interessen von Umweltbewegten. Diese Verbände äußern sich zu allem und jedem – wenn es ihre Mitgliedschaft so festlegt bzw. erlaubt. Oder genauer: Wenn es eine Mehrheit ihrer Mitglieder so festlegt bzw. erlaubt. Wenn der unterlegenen Minderheit nicht gefällt, was die Mehrheit im Verband möchte, so kann sie für Veränderung streiten – oder den Verband schlicht verlassen.
Etwas anderes ist es, wenn man – wie bei den Industrie- und Handelskammern (IHK) – nicht freiwillig Mitglied ist. Diese beruhen auf der Pflichtmitgliedschaft von Unternehmen. Dennoch äußern sich IHKs zu fast allem, was ihnen beliebt – und auf Bundes- sowie Europaebene macht es ihnen ihr Dachverband DIHK nach. Wer anderer Meinung ist, kann nicht austreten, sondern muss es schlucken. Und muss all das weiterhin mit eigenen Mitgliedsbeiträgen finanzieren. Und zwar selbst dann, wenn es den eigenen Interessen zuwiderläuft. Was durchaus oft vorkommt: Beispielsweise haben Bahn- und Busbauer das Nachsehen, wenn IHKs und DIHK eine autofreundliche Verkehrspolitik fordern. Was sie tun. Unternehmen aus dem Bereich Erneuerbarer Energien haben das Nachsehen, wenn IHKs und DIHK als Kohle-Lobbyisten auftreten. Was sie tun (bzw. getan haben). Und sozial verantwortlich handelnde Unternehmen haben das Nachsehen, wenn IHKs und DIHK sich gegen eine stärkere Regulierung von Arbeitsverhältnissen und gegen eine Stärkung des Sozialstaats aussprechen. Was sie ebenfalls tun. Wenn es in §1 des IHK-Gesetzes heißt, die IHKs hätten »die wirtschaftlichen Interessen einzelner Gewerbezweige oder Betriebe abwägend und ausgleichend zu berücksichtigen«, so sind diese Buchstaben meist das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt sind.
So war es jedenfalls jahrzehntelang. Bis das Bundesverwaltungsgericht 2016 urteilte, der DIHK – als Zusammenschluss von IHKen, die auf Zwangsmitgliedschaft beruhen – müsse sich mit allgemeinpolitischen Äußerungen zurückhalten. Interessenvertretung sei hier eng auszulegen. Was allerdings den DIHK zunächst nicht zu interessieren schien. In einem weiteren Urteil gab das Gericht einem Windkraftunternehmer aus Münster deshalb das Recht, den Austritt seiner IHK aus dem DIHK zu verlangen, sollte sich letzterer zukünftig politisch nicht zurückhaltender zeigen. Was wiederum die Existenz des DIHK gefährdet, denn inzwischen wollen fünf weitere Unternehmen ihre IHK vor Gericht zwingen, den DIHK zu verlassen. Der Dachverband steht vor beträchtlichen organisatorischen, aber vor allem finanziellen Problemen.
Doch Rettung naht. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) ▸will den DIHK in eine Bundeskammer umwandeln, genannt »Deutsche Industrie- und Handelskammer«. Der eingetragene Verein soll Körperschaft des öffentlichen Rechts werden – mit gesetzlich festgeschriebener Pflichtmitgliedschaft aller Industrie- und Handelskammern und dem Recht, sich zu allen möglichen Themen zu äußern. Arbeitsrecht und Sozialpolitik sind im Gesetzentwurf ausdrücklich genannt. So will die Große Koalition eine unternehmensfreundliche, neoliberale politische Stimme in Berlin und Brüssel am Leben halten.
Nun gibt es an solchen Stimmen allerdings keinen Mangel. Um es nochmal deutlich zu formulieren: Dass das Kapital seine Interessen in einer Demokratie vertritt, ist legitim. Dafür gibt es allerdings den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und andere Verbände. Dass ergänzend dazu ein weiterer mächtiger Unternehmensverband durch kräftige staatliche Hilfe vor dem möglichen Aus bewahrt wird, ist nicht nur unnötig, sondern vor allem politisch fatal: Es ist Schützenhilfe für das Kapital, das im heute bestehenden Machtungleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit ohnehin deutlich dominiert.
Man darf gespannt sein, ob die SPD das mitmacht.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.