Willkommen in der schmutzigen Welt des Energiecharta-Vertrags
1. November 2018 | Pia Eberhardt
Während die Paralleljustiz für Konzerne im Kontext von TTIP und CETA quasi zum Stammtischthema geworden ist, ist der Energiecharta-Vertrag weniger bekannt. Dabei ist er das vielleicht gefährlichste Investitionsabkommen der Welt. Nun soll es auf zahlreiche Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika ausgeweitet werden.
Vor gut 20 Jahren, am 28. April 1998 platzten in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die Verhandlungen über das Multilaterale Investitionsabkommen MAI. Verbraucherschutz-, Umwelt- und Entwicklungsorganisationen aus aller Welt jubelten. Sie hatten gegen die geplante Paralleljustiz für Konzerne mobil gemacht, die sie für unvereinbar mit einer gerechten und nachhaltigen Weltordnung hielten. Was sie nicht wussten: Nur wenige Tage vorher, am 16. April 1998, war ein anderes multilaterales Investitionsabkommen bereits klammheimlich in Kraft getreten – der Energiecharta-Vertrag (Energy Charter Treaty, ECT).
Der ECT gilt heute in fast 50 Staaten von Westeuropa über Zentralasien bis Japan. Sein Kern sind weitreichende Privilegien für ausländische Investoren im Energiesektor – auch bekannt unter dem berüchtigten Akronym ISDS (investor-state dispute settlement, Investor-Staat-Streitschlichtung). Die ISDS-Klauseln des ECT geben Konzernen im Energiesektor weitreichende Rechte, Staaten vor internationalen Schiedsgerichten zu verklagen, bestehend aus drei privaten JuristInnen, den SchiedsrichterInnen. Sie können Konzernen schwindelerregende Summen an Schadensersatz für angebliche Investitionseinbußen zusprechen – und zwar infolge sogenannter »Enteignungen«, aber auch indirekter Schäden durch quasi jegliche Regulierung.
Klagen gegen Politik im öffentlichen Interesse
So hat der Energieriese Vattenfall Deutschland wegen Umweltauflagen für ein Kohlekraftwerk verklagt – und für den beschleunigten Atomausstieg nach der Katastrophe von Fukushima. Das Öl- und Gas-Unternehmen Rockhopper verklagt Italien wegen eines Verbots neuer Offshore-Ölbohrungen durch das italienische Parlament. Mehrere Stromversorger, darunter die österreichische EVN, verklagen Bulgarien – unter anderem, weil die Regierung die enorm hohen Strompreise für VerbraucherInnen gesenkt hatte.
Für Staaten und SteuerzahlerInnen steht in den Verfahren viel Geld auf dem Spiel. Einige der teuersten Klagen der ISDS-Geschichte wurden auf Basis des ECT eingereicht, darunter Vattenfalls laufende Klage gegen den beschleunigten Atomausstieg in Deutschland (über €4,3 Milliarden, plus Zinsen). Häufig verlangen Unternehmen nicht nur Entschädigung für bereits getätigte Investitionen, sondern auch für entgangene »zukünftige Profite«. So will Rockhopper von Italien nicht nur die 40-50 Millionen US-Dollar, die das Unternehmen tatsächlich in die Erschließung eines Ölfelds vor der Adriaküste investiert hat. Sondern zusätzlich auch noch 200-300 Millionen US-Dollar für Gewinne, die das Feld möglicherweise eingebracht hätte, wäre es genehmigt worden.
Kein anderes Handels- und Investitionsabkommen hat weltweit mehr Investor-Staat-Klagen ermöglicht als der ECT. Anfang September 2018 verzeichnete das ECT-Sekretariat insgesamt 119 Klagen. Aufgrund der Intransparenz des Systems dürfte die tatsächliche Zahl aber höher liegen. Und die Tendenz ist steigend: Während aus dem ersten Jahrzehnt des Abkommens (1998-2008) nur 19 Fälle bekannt sind, wurden allein in den letzten fünf Jahren (2013–2017) 75 neue Investor-Staat-Klagen eingereicht.
Superwaffe für Klimakiller
Die milliardenschweren Verfahren können Entscheidungsträger*innen gefügig machen. So zwang Vattenfalls erste ECT-Klage über 1,4 Milliarden Euro gegen Umweltauflagen für das Kohlekraftwerk Moorburg bei Hamburg die Regierung vor Ort dazu, die Auflagen zu lockern, um den Fall beizulegen. Das macht den ECT zu einem mächtigen Instrument, mit dem Öl-, Gas-, Kohle- und andere Energie-Konzerne Regierungen an der Umsetzung der Energiewende hindern können. Es ist zu erwarten, dass sie genau das tun werden, sollten Staaten endlich die nötigen Schritte ergreifen, um eine Klimakatastrophe zu verhindern und fossile Brennstoffe im Boden lassen.
Mit dem ECT können Regierungen auch für die Rücknahme gescheiterter Energieprivatisierungen belangt werden sowie für Maßnahmen, die Elektrizität bezahlbar und Energiearmut senken sollen. Auf Investor-Staat-Klagen spezialisierte AnwältInnen erwägen bereits Klagen gegen Großbritannien, wo die Regierung jüngst eine gesetzliche Deckelung der Energiekosten für Haushalte angekündigt hat. Der ECT hat damit auch eine klar anti-soziale Dimension – und steht einer dezentralen Energieversorgung in der Hand von BürgerInnen, in der Gewinne und Kosten gerecht verteilt werden, im Wege.
Ausweitung in den globalen Süden
Trotz dieser Risiken befinden sich derzeit zahlreiche Länder des globalen Südens im Prozess, dem Vertrag beizutreten. Diese Ausweitung wird vom ECT-Sekretariat, der EU, Anwaltskanzleien und anderen AkteurInnen der Schiedsindustrie aggressiv vorangetrieben. Sie wollen Zugang zu ergiebigen Energiequellen und ihre eigene Macht und Profitmöglichkeiten erweitern. Afrika steht ganz oben auf der Erweiterungsagenda (z.B. Burundi, Gambia, Mauretanien, Marokko, Niger, Nigeria, Tschad, Uganda) gefolgt vom Mittleren Osten (z.B. Jordanien, Jemen), Asien (z.B. Pakistan, Bangladesh, Kambodscha) und Lateinamerika (z.B. Kolumbien, Guatemala).
Das Bewusstsein über die politischen und finanziellen Risiken des ECT ist in diesen Ländern alarmierend gering. BeamtInnen, die Erfahrung haben mit der Aushandlung von Investitionsverträgen und Investoren-Klagen, sind bisher kaum involviert, da i.d.R. Energieministerien federführend sind. Das ist besorgniserregend, denn viele dieser Länder haben bereits desaströse Erfahrungen mit Konzern-Klagen im Rahmen anderer Investitionsverträge gemacht. Ein Beitritt zum ECT könnte zu einer schieren Klagewelle führen.
Raus aus dem ECT
Aber es gibt auch gute Neuigkeiten. Weltweit wendet sich das Blatt gegen Konzernprivilegien, wie sie im ECT festgeschrieben sind. AktivistInnen, AkademikerInnen und Abgeordnete beginnen, den Vertrag kritisch zu hinterfragen. Europäische Gerichte könnten dem ECT an den Kragen gehen. Und es könnten noch mehr Länder dem Beispiel Russlands und Italiens folgen, die den ECT bereits verlassen haben. Und in einer momentan auf europäischer Ebene entwickelten Kampagne gegen die ISDS-Paralleljustiz für Konzerne im Jahr 2019 wird der ECT sicher eine prominente Rolle spielen.
Der Artikel ▸erschien zuerst im EU-Infobrief der AK Wien. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.
Pia Eberhardt arbeitet bei der lobbykritischen Organisation Corporate Europe Observatory (CEO).