Zum angeblichen "Reform-Unwillen" Griechenlands – einige Fakten
14. Juni 2012 | Patrick Schreiner
Medien und Politik in Deutschland laufen derzeit propagandistisch heiß: Noch schärfer als bisher wird wieder und wieder behauptet, dass Griechenland bei der Umsetzung der "Reformmaßnahmen" versagt habe. Hintergrund dafür: Die Wahlen in Griechenland stehen kurz bevor, und schon jetzt steht fest, dass die dortige Linkspartei SYRIZA mit ihrer Ablehnung der Kürzungspolitik einen Erfolg errungen hat. Immerhin setzen sich dank des Drucks von links alle anderen nennenswerten Parteien mittlerweile für eine Revision des "Memorandums" ein, also für eine Überarbeitung der Vereinbarungen mit der Europäischen Union über Kürzungsmaßnahmen in Griechenland. Die scharfe Reaktion von Medien und Politik ist ein guter Grund, sich die Fakten zum angeblichen "Reformunwillen" der Griechen mit kühlem Kopf ein wenig genauer anzusehen.
Für SYRIZAs ablehnende Haltung gegenüber der aktuell praktizierten Austeritätspolitik gibt es gute Gründe: Die wirtschaftliche Entwicklung in Griechenland ist fatal. Ursachen der wirtschaftlichen Misere sind die massiven Kürzungsmaßnahmen, die das Land über sich ergehen lassen muss. Ich werde auf diesen Punkt gleich genauer eingehen. Anstatt aber die Kürzungspolitik als Ursachen zu erkennen, gehen Medien und Politik in Deutschland und anderen europäischen Staaten dazu über, alte Vorurteile vom griechischen "Reformunwillen" zu bedienen. Sie behaupten,
- die "Reformmaßnahmen" würden in Griechenland unzureichend umgesetzt,
- dieser "Reformunwille" sei Ursache für die Misere des Landes,
- eine Revision der Kürzungspolitik werde es nicht geben.
- Und wieder und wieder malen sie das Schreckgespenst eines griechischen Rauswurfs aus der Eurozone an die Wand, unter dem in erster Linie Griechenland selbst zu leiden habe.
Medien und Politik üben damit massiv Druck auf griechische Wählerinnen und Wähler aus – es bleibt zu hoffen, dass dieser undemokratischen Strategie kein Erfolg beschieden sein wird. (Immerhin meldet Spiegel Online, dass sich die Euro-Staaten auf Nachverhandlungen des "Memorandums" einstellen; möglicherweise deutet sich hier allen Erpressungsversuchen zum Trotz und ungeachtet möglicher Wahlergebnisse ein Erfolg SYRIZAs an.)
Griechenland rutscht immer tiefer in die Rezession...
Das intellektuelle Niveau, auf dem die aktuelle Kampagne gegen Griechenland gefahren wird, ist dabei erschreckend niedrig. So hat beispielsweise die Frankfurter Allgemeine Zeitung jüngst allen Ernstes einen Zusammenhang zwischen der unterbliebenden Liberalisierung des Taxigewerbes in Griechenland und der Krise des Landes suggeriert. Anstatt solche alten Vorurteile zu bedienen, ist es sinnvoll, sich die Fakten ein wenig genauer anzusehen. Genau das soll im Folgenden geschehen.
Ich habe in einem Artikel vor einigen Wochen aufgezeigt, in welch enormem Ausmaß die EU-Kommission und der Internationale Währungsfonds (IWF) mit ihren Prognosen zur Entwicklung Griechenlands gescheitert sind. Prognosen, auf denen letztlich das gesamte Programm zur Haushaltskonsolidierung beruht. Hier gründen die Probleme, die Griechenland hat – ich will dies im Folgenden mit aktualisierten Zahlen darstellen. Um eines vorwegzunehmen: Die Situation hat sich gegenüber meinem ersten Artikel zum Thema nochmals verschlechtert.
Kernproblem Griechenlands ist nicht, dass zu wenig "Reform-Maßnahmen" umgesetzt werden, sondern dass zu viel falsche, von Brüssel und Berlin vorgeschriebene Austeritätspolitik betrieben wird. Hier wird schlicht eine ökonomische Grundregel nicht beachtet: Wenn ein Staat seine Ausgaben stark zurückführt, hat dies negative Auswirkungen auf die Konjunktur und die wirtschaftliche Entwicklung. Ein Staat kann sich aus der Krise nicht heraussparen, denn jedes Kürzen von Ausgaben führt zu einem Einbruch der Konjunktur und damit zu einem Einbruch der Steuereinnahmen.
Man muss einräumen: Das haben EU-Kommission und IWF durchaus in einem gewissen Umfang vorhergesehen. Für 2011 haben sie im Anpassungsprogramm für Griechenland einen Einbruch der Wirtschaft um 2,6 Prozent unterstellt. Allerdings haben sie diesen Effekt damit sträflich und drastisch unterschätzt. Die genannte Prognose blieb weit hinter dem Einbruch der Wirtschaft zurück, der dann tatsächlich eintrat, wie die folgende Abbildung zeigt:
Abbildung 1: Prognose der EU-Kommission für das griechische Bruttoinlandsprodukt (für 2011 und 2012 in Mrd. Euro, Quelle: Anpassungsprogramme und Revisionen für Griechenland)
Wieder und wieder mussten EU-Kommission und IWF ihre Prognosen des griechischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) für 2011 nach unten anpassen: Im Zuge der zweiten Revision im Dezember 2010 zunächst auf einen Einbruch von 3,0 Prozent, im Juli 2011 auf minus 3,8 Prozent, im Oktober 2011 dann auf minus 5,5 Prozent. Der tatsächliche Wert war schließlich mit einem Einbruch der Wirtschaft um 6,9 Prozent nochmals deutlich höher.
Für das Jahr 2012 hat man noch im Juli 2011 ein positives Wachstum des BIP von 1,1 Prozent behauptet. Anschließend ging es auch hier, angesichts der fatalen wirtschaftlichen Entwicklung Griechenlands, mit den Prognosen nach unten: Im Oktober 2011 hat man mit der fünften Revision des Anpassungsprogramms die Wachstumsprognose für 2012 auf fast minus drei Prozent mehr als deutlich reduziert. Mit dem zweiten Anpassungsprogramm musste man die Prognose im März 2012 auf minus 4,7 Prozent nochmals deutlich nach unten korrigieren. Es ist zu befürchten, dass auch hier das Ende der Fahnenstange noch keineswegs erreicht ist.
Anstatt aber die Fatalität ihrer eigenen Politik zu erkennen, betreiben EU-Kommission und IWF weiter Zweckoptimismus: 2013 soll jetzt das Jahr sein, in dem die Abwärtsspirale Griechenlands zu Ende geht. Ein Schelm, wer daran zweifelt.
Wenn nun aber ein Anpassungsprogramm entworfen wird, das auf einem Einbruch der Wirtschaftsleistung um “nur” 2,6 Prozent beruht, dann führt ein tatsächlicher Einbruch um 6,9 Prozent zu massiven Problemen. Insbesondere führt er zu einem massiven Einbruch der Staatseinnahmen und einem massiven Anstieg der Staatsausgaben, wie die folgende Grafik 2 für die Staatseinnahmen zeigt:
Abbildung 2: Staatseinnahmen-Prognose der EU-Kommission für Griechenland (für 2011 und 2012 in Mrd. Euro, Quelle: Anpassungsprogramme und Revisionen für Griechenland)
Der Einbruch der Wirtschaft, durch drastische Kürzungen provoziert, führt zu einem ebenso drastischen Einbruch der geschätzten und kalkulierten Einnahmen. Hatten EU und IWF für 2011 und für 2012 zunächst noch Einnahmen von jeweils über 98 Mrd. Euro vorhergesagt, so mussten sie diese Zahlen wieder und wieder nach unten korrigieren. In ihrer aktuellsten Kalkulation vom März 2012 gehen sie von gänzlich anderen Zahlen aus. 2011 betrugen die tatsächlichen Steuereinnahmen Griechenlands gerade mal 88,5 Mrd. Euro, 2012 sollen es nur noch 86,3 Prozent sein. Dies bedeutet für 2011 Mindereinnahmen von 9,8 Mrd. Euro und einem Rückgang von 10 Prozent gegenüber der ursprünglichen Kalkulation. Für das Jahr 2012 sind es – nach derzeitiger, vermutlich zu optimistischer Prognose! – sogar 12,5 Mrd. Euro oder 12,6 Prozent weniger.
...weil es die Auflagen von EU und IWF befolgt
Vor diesem Hintergrund ist es mehr als zynisch, die verheerende Situation Griechenlands darauf zurückzuführen, dass "Reformprogramme" wie die Liberalisierung des Taxiverkehrs nicht schnell genug umgesetzt würden. Dies gilt umso mehr, als die "Troika" aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und IWF in ihren Berichten sich regelmäßig weitgehend zufrieden mit der Umsetzung des Kürzungsprogramms äußern. Zu Recht machten sie wiederholt darauf aufmerksam, dass kein anderes europäisches Land auch nur annähernd solche Einschnitte vorgenommen hat oder vornimmt, wie es Griechenland gerade tut.
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch eine Auswertung der Urteile, die die "Troika" zu einzelnen Maßnahmen oder Maßnahmenbündeln in Griechenland gefällt hat. Verbunden mit dem zweiten Anpassungsprogramm, das im März 2012 veröffentlicht wurde, hat sie auch einen Bericht über die Umsetzung der Vorgaben des ersten Anpassungsprogramms angefertigt. Sie listet darin insgesamt 175 Maßnahmen und Maßnahmenbündel auf, die Griechenland zu erfüllen hat:
- Davon wertet die Troika 21 Maßnahmen als "noch nicht umsetzbar". Wenn aber objektive Gründe es unmöglich machen, bestimmte Maßnahmen umzusetzen, so wird man dies der griechischen Politik kaum zum Vorwurf machen können.
- 11 Maßnahmen beziehen sich direkt auf die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Davon hat Griechenland nach Auskunft der Troika 9 Maßnahmen umgesetzt, zwei Maßnahmen immerhin teilweise umgesetzt. Die beiden "nur" teilweise umgesetzten Maßnahmen stellen bei genauerer Betrachtung zudem eher Zieldefinitionen als Maßnahmen dar - Ziele, deren nur teilweises Erreichen bei noch genauerer Betrachtung überdies schlicht auf die Rezession zurückgeführt werden kann. Man wird es Griechenland nicht zum Vorwurf machen können, dass Berlin, Paris und Brüssel ihm grundlegend falsche finanz- und wirtschaftspolitische Maßnahmen aufgezwungen haben. (Womit die ausführenden griechischen Parteien und Personen von ihrer Mitverantwortung nicht freigesprochen werden sollen.)
- Von den insgesamt 154 Maßnahmen des ersten Anpassungsprogramms, die die Troika als grundsätzlich umsetzbar wertet, hat Griechenland 88 vollständig und zeitgerecht umgesetzt bzw. setzt diese gerade um, weitere 14 hat es mit Verspätung erledigt, weitere 26 wurden zumindest teilweise umgesetzt. Lediglich 26 Maßnahmen wurden überhaupt nicht umgesetzt – dies entspricht gerade einmal 14,9 Prozent aller Maßnahmen.
Es gibt dabei durchaus nachvollziehbare Gründe dafür, dass einige Maßnahmen nur teilweise, nur verspätet oder gar nicht umgesetzt werden.
- Die nicht umgesetzten sind dabei zum einen vorrangig einige von jenen Maßnahmen, die die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen direkt betreffen – die also in einer Demokratie nicht einfach diktiert werden können, sondern die unter Berücksichtigung der Interessen Betroffener verhandelt werden müssen. (Hierzu gehört auch die oben erwähnte Liberalisierung des Taxigewerbes.) Solche Verhandlungen können in einer Demokratie eben auch für manche unerwünschte Ergebnisse zeitigen.
- Verwiesen sei zudem auf den häufig zitierten Umstand, dass Privatisierungen in Griechenland nicht recht vorankommen. Dies ist kein Wunder: Privatisierung in Griechenland bedeutet nichts anderes, als dass jemand anders privates Geld dort investieren müsste. Angesichts der Rezession ist es nachvollziehbar, dass dies kaum jemand macht - das Land hat in den letzten Jahren seit Beginn der Krise mehr als ein Fünftel seiner Wirtschaftskraft verloren. Nicht Reformunwille, sondern die durch Kürzungen provozierte katastrophale wirtschaftliche Situation ist der Grund für das Stocken bei den Privatisierungen.
Fazit
Von Verweigerung und "Reformunwille", die Politik und Medien den Griechen wieder und wieder unterstellen, kann vor diesem Hintergrund nicht die Rede sein. Trotz aller Defizite, die es in der griechischen Politik und im dortigen Öffentlichen Dienst geben mag: Grund für die wirtschaftliche und finanzielle Misere des Landes ist nicht, dass "Reformmaßnahmen" nicht umgesetzt werden. Grund ist vielmehr, dass die falschen Maßnahmen umgesetzt werden. Maßnahmen, die das Land in eine tiefe Rezession geführt haben und weiter führen; Maßnahmen, die einen Einbruch der Konjunktur und der Steuereinnahmen provozierten und immer schärfer produzieren.
Eine letzte Anmerkung: Der griechische Wahlkampf zeigt, wie wichtig eine Partei links von der Sozialdemokratie ist. Ohne das Beharren der SYRIZA auf einer stärker wachstumsorientierten Politik, verbunden mit einer grundsätzlichen Ablehnung der von Brüssel aufgezwungenen Kürzungspolitik, hätten weder die griechischen Konservativen noch die dortige Sozialdemokratie eine auch nur vorsichtig gegen diese Politik gerichtete Position eingenommen. Schließlich waren sie es ja auch, die seit Jahren - in wechselnder Regierungszusammensetzung – eben diese Politik umsetzten. Und schließlich waren sie es, die noch zu Beginn des Wahlkampfes von einer Revision des "Memorandums" nichts wissen wollten.
Quellen:
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.