Zwei Erzählungen über die Agenda 2010
28. November 2019 | Michael Wendl
Über die Agenda 2010 wird nicht nur in der SPD nach wie vor heftig gestritten. Im Zentrum stehen dabei insbesondere die Hartz-Gesetze. Wenn wir sie verstehen wollen, müssen wir ihre polit-ökonomische Vorgeschichte in den Blick nehmen.
Bereits nach dem Rücktritt von Lafontaine im März 1999 kam es im Juni des Jahres zum Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit. In diesem wurde Lohnzurückhaltung in der Form vereinbart, dass die Tarifparteien beschlossen, den so genannten kosten- und verteilungsneutralen Zuwachs der Arbeitsproduktivität, der aus der Summe von Produktivitätssteigerung und dem Anstieg der Verbraucherpreise besteht, nicht auszuschöpfen, sondern für die Förderung der Beschäftigung zu nutzen. In der Praxis geschah dies dann mit den Tarifabschlüssen im Frühjahr 2000, die eine zweijährige Laufzeit hatten. In dieser Laufzeit wurde dieser Verteilungsspielraum um ca. 3,5 Prozent unterschritten, was eine spürbare Abschwächung der Konsum-Nachfrage nach sich gezogen hat. Durch geringere Steuereinnahmen kam es bei den öffentlichen Investitionen auch zur Kürzung der investiven Nachfrage. Insofern waren die negativen Impulse auf den Arbeitsmarkt in der Konjunkturkrise 2001/02 stärker als in anderen vergleichbaren europäischen Ländern.
Hinzu kamen negative Effekte durch die Unternehmenssteuerreformen 2000 und 2002, die 2003 sogar zu einem negativen Aufkommen bei der Körperschaftssteuer führten. Berechnungen des Ökonomen und heutigen »Wirtschaftsweisen« Achim Truger kommen zu dem Ergebnis, dass die Steuereinnahmen durch die rot-grüne Finanzpolitik zwischen 2001 und 2005 um 150 Mrd. Euro zurückgegangen sind.
Zusammen mit dem Verzicht auf eine antizyklische Konjunkturpolitik (dieser wurde von SPD-Kanzler Gerhard Schröder als Politik der »ruhigen Hand« glorifiziert) hielten diese Entscheidungen die Arbeitslosigkeit weiter auf einem sehr hohen Niveau, was in der medialen Öffentlichkeit zum Bild von Deutschland als »kranken Mann Europas« dramatisiert wurde. Diese Misere auf dem Arbeitsmarkt hatte zunächst, also ab dem 2. Halbjahr 2001, konjunkturelle Gründe, spätestens ab Ende 2002 war sie aber das Resultat von wirtschafts- und finanzpolitischen Fehlentscheidungen der Bundesregierung. Damals wurden auch die (aus makoökonomischer Sicht unsinnigen) Stabilitätskriterien des Maastrichter Vertrags verletzt, was in der Folge zur Verstärkung der finanzpolitischen Austerität führte. Deshalb blieb die Arbeitslosigkeit nach der Krise länger als in anderen europäischen Ländern hoch. Die Bundesregierung hatte die makroökonomische Misere, auf die sie 2003 mit der Agenda 2010 zu reagieren versuchte, zu einem großen Teil selbst verursacht.
Das gilt auch für die mit dem Namen von Sozialminister Walter Riester (SPD) verbundene Rentenreform 2000. Hier führte die Kombination einer Senkung der umlagefinanzierten Rente mit dem Aufbau einer kapitalgedeckten Zusatzrente zu einer Schwächung der konsumtiven Nachfrage und zu einer Erhöhung der Sparquote. Es wäre es sinnvoller gewesen, die Beiträge und den Staatszuschuss (den es auch für die Riesterrente gab) zu erhöhen. Das hätte die konsumtive Nachfrage der Rentnerhaushalte und Arbeitnehmerhaushalte nicht gekürzt, sondern stabilisiert. So wirkte diese Rentenreform im beginnenden konjunkturellen Abschwung prozyklisch.
Heute gibt es über die Effekte dieser Arbeitsmarktreformen zwei Erzählungen, die beide grob fehlerhaft sind. Trotzdem halten sie sich hartnäckig in den Debatten etwa auch der SPD.
Einmal wird der Rückgang der Arbeitslosigkeit ab 2010 und der darauffolgende Anstieg der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung auf diese Arbeitsmarktreformen zurückgeführt. Dabei wird verkannt, dass eine zeitliche Folge keine Kausalität begründet. Das kann sein, aber es kann auch andere – gewichtigere – Gründe für den Anstieg der Beschäftigung geben. Diese sind hier auch plausibler. Bereits 2005 setzte eine kräftige Erholung der Weltkonjunktur ein, die durch die starke Investitionsgüternachfrage der BRIC-Staaten getragen wurde. Daran partizipierten das deutsche Exportmodell und der deutsche Handelsmerkantilismus in hohem Maß. Mit der Flexibilisierung des deutschen Arbeitsmarktes hatte das nur insofern zu tun, weil zwischen 2004 und 2007 die Lohnerhöhungen spürbar unter dem verteilungsneutralen Produktivitätswachstum (= Summe aus Zuwachs der Arbeitsproduktivität plus Preissteigerung) gelegen waren. Die drastischen Verschlechterungen bei den Bezugsbedingungen der Arbeitslosenunterstützung, insbesondere beim raschen Übergang ins Arbeitslosengeld II (Hartz IV), hatten die Streikmächtigkeit der Gewerkschaften nachhaltig geschwächt, weil die Angst vor Arbeitslosigkeit und in deren Folge Hartz IV hoch war. Zusammengenommen kam es zwischen 1996 und 2007 zu einer Stagnation der gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten, was die bereits Mitte der 1990er Jahre bestehende überlegene Wettbewerbsposition der deutschen Exportindustrie weiter ausgebaut hatte. Bereits in dieser Zeit begann der Aufbau enorm hoher Außenhandels- und Leistungsbilanzüberschüsse, die bei den Handelspartnern in Europa und in der Welt zu entsprechend großen Leistungsbilanzdefiziten und, da ein Leistungsbilanzüberschuss einen gleich großen Kapitalexport bedeutet, zu Aufbau großer Geldvermögen und spiegelbildlich ebenso großer Schulden führt.
Da in Deutschland ganz überwiegend nicht in diesen makroökonomischen Salden gedacht wird, werden diese für die Weltwirtschaft insgesamt risikobehafteten Zusammenhänge ausgeblendet. Das gilt besonders für die mikroökonomisch ausgerichtete Arbeitsmarktforschung, die wegen ihres Tunnelblicks auf den Arbeitsmarkt der Deregulierung des Arbeitsmarkts Beschäftigungseffekte zuspricht, die in Wirklichkeit außerhalb des deutschen Arbeitsmarkts entstanden sind. Das war zum Beispiel die starke Nachfrage nach deutschen Exporten, insbesondere nach Investitionsgütern auf den internationalen Märkten. Weitgehend unstrittig in der makroökonomisch orientierten Arbeitsmarktforschung ist, dass die Hartz-Reformen zu negativen Kollateraleffekten geführt haben, also zur weiteren Vergrößerung des Niedriglohnsektors, zur Forcierung der Ungleichheiten bei Einkommen und Vermögen und der damit verbundenen Schwächung der Nachfrageseite einer Volkswirtschaft. Wenn wir die klassischen Indikatoren für Ungleichheit, die Entwicklung der Lohnquote und des so genannten Gini-Koeffizienten betrachten, so findet der stärkste Anstieg der Ungleichheit im Zeitraum von 2000 bis 2006 statt. Es ist ein Rätsel, warum dieser in ihren Auswirkungen gesamtwirtschaftlich desaströsen Politik der Stempel einer besonderen wirtschaftlichen Kompetenz aufgedrückt wurde und wird.
Ein zweites Narrativ kommt aus der Richtung von Teilen der Linken innerhalb der SPD. Sie wollen eine Korrektur, manchmal sogar eine Komplettrevision der Hartz-Gesetze, weil diese damals – also 2003 bis 2005 – notwendig gewesen seien, heute aber, in einer Situation der ökonomischen Prosperität, nicht mehr gebraucht würden. Teil dieser Erzählung ist in der Regel das Eingeständnis, dass mindestens einige Elemente dieser Gesetze unsozial sind und unerwünschte Nebenfolgen haben, wie einen großen Niedriglohnsektor, Zunahme der Ungleichheit und eine daraus resultierende Altersarmut. Der erste Teil dieser Erzählung, also die These von einer zeitweise bestehenden Notwendigkeit einer Flexibilisierung des Arbeitsmarkts und der Senkung des Rentenniveaus wegen demografischer Entwicklungen, bewegt sich am Rande von Märchen. Die deutschen Arbeitskosten waren zwischen 1995 und 2005 nicht zu hoch. Bereits 1997 war zu erkennen, dass das Wachstum der deutschen Lohnstückkosten im europäischen Vergleich zu gering war und zu einer Gefahr für die Stabilität eines gemeinsamen Währungsraums zu werden drohte. Von einer Gefährdung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportindustrie konnte keine Rede sein. Es war umgekehrt: Die deutschen Außenhandelsüberschüsse stiegen von knapp 60 Mrd. Euro 1999 auf knapp133 Mrd. Euro 2002 und 158 Mrd. Euro 2005. Die Arbeitslosigkeit blieb trotzdem hoch, weil die auf Konsolidierung gerichtete Fiskalpolitik und die Lohnstagnation den Binnenmarkt eigeschnürt hatten. Dass die Arbeitslosigkeit 2002 bis 2005 auf hohem Niveau blieb, war ein Resultat dieser falschen wirtschafts- und sozialpolitischer Entscheidungen der Bundesregierung. Dass dieses Narrativ heute noch Wirkung erzielt, liegt daran, dass eine hohe Arbeitslosigkeit im ökonomischen Alltagsverstand (und in der neoklassischen Arbeitsmarkttheorie) mit zu hohen Arbeitskosten und bei einem umlagefinanzierten Sozialsystem mit zu hohen »Lohnebenkosten« erklärt wird. Es ist kein Zufall, dass in der Mitte der 1990er Jahre eine geradezu hysterische Lohnnebenkostendebatte geführt wurde, obwohl sämtliche Sozialversicherungsbeiträge in den Lohnstückkosten enthalten sind und diese so niedrig waren, dass die internationale Wettbewerbsposition ausgesprochen gut war, was die Entwicklung der Außenhandelsüberschüsse 1995 bis 2005 belegt. Es hat in der SPD, aber auch in den Gewerkschaften zwischen 1990 und 2005 ein weitreichender Verlust an makroökonomischer Kompetenz stattgefunden. Dieser hat auch vor der linken SPD nicht Halt gemacht und wirkt in großem Umfang bis heute noch in Teilen der SPD-Linken nach.
Das hat auch zur Folge, dass sich die »Seeheimer« in der SPD, die ganz offen für das Denken in den (wenn auch einfachen) Versionen der neoklassischen und ordoliberalen Doktrinen plädieren, sich als wirtschaftspolitische Realisten in der SPD darstellen können. Das hat wenig mit dem Einfluss neoklassischer und ordoliberaler Ökonomen in der SPD zu tun, sondern mit dem Umstand, dass das ökonomische Alltagsbewusstsein der meisten Menschen durch die Perspektive eines (privaten) Einzelhaushalts bestimmt wird. Diese Sicht der »schwäbischen Hausfrau« prägt auch eine akademische Variante des ökonomischen Denkens, den deutschen Ordoliberalismus, der personifiziert durch Ludwig Erhard (CDU) bis in SPD und sogar in die Partei DIE LINKE hinein geschätzt wird. Im rechten Flügel der SPD wird dann Erhard durch Helmut Schmidt und Gerhard Schröder zu ersetzen versucht. Peer Steinbrück, Sigmar Gabriel und Olaf Scholz standen und stehen in dieser ordnungspolitischen Tradition. Zu Schmidt muss man sagen, dass er als rechter Keynesianer in diese Ehrengalerie nicht passt, aber wenn Keynesianismus und Ordoliberalismus nicht auseinandergehalten werden, kommt so etwas vor.
Wenn wir die Folgen der rot-grünen Koalition für die deutsche Gesellschaft und für Europa bilanzieren, so fällt diese Bilanz ausgesprochen schlecht aus: Die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen ist stark gestiegen, der Niedriglohnsektor ist gewachsen. Erst ab 2011/12 hat sich die Entwicklung der Arbeitsentgelte wieder stabilisiert und der Zuwachs der Arbeitsproduktivität wird wieder ausgeschöpft. Das hat ab 2012 zu einem bescheidenen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und zur Zunahme sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung geführt. Diese wenn auch gering dimensionierte positive Entwicklung gilt aber nicht für den Euroraum insgesamt. Die zurückhaltende Lohnpolitik in Verbindung mit einer restriktiven Finanzpolitik (Austerität) haben die Währungsunion in hohem Maße belastet und sind weiter eine ständige Gefahr für den Fortbestand der gemeinsamen Währung. Deutschland hat sein tradiertes Wirtschaftsmodell, einen stabilitätsorientierten Handelsmerkantilismus, in dem Preisstabilität und Lohnzurückhaltung die Garanten einer aus internationaler Sicht unterdurchschnittlichen Inflationsrate waren, und damit eine nominale Unterbewertung der DM möglich machten, in die Währungsunion mitgenommen. In der Zeit zwischen 1999 und 2005 wurde dieses Modell weiter radikalisiert. In der Währungsunion, die nominale Auf- und Abwertungen unmöglich macht, wurde aus der nominalen Abwertung der DM eine reale Abwertung deutscher Produkte im Euroraum und über den niedrigen Eurokurs gegenüber dem US-Dollar auch in der Weltwirtschaft. Es kennzeichnet die Provinzialität des ökonomischen Denkens in Deutschland, dass nach wie vor in nationalen Größen und nicht in Währungsräumen bzw. in der Dimension einer eng verflochtenen Weltwirtschaft gedacht wird. Nicht nur für die europabegeisterte SPD bedeutet das, dass Europa nur als politisches, nicht aber als makroökonomisches Projekt gedacht wird. In einer Situation, in der wir gegenwärtig in eine weltweite Rezession geraten werden (Deutschland wegen seiner Exportlastigkeit noch schneller) ist dieser Verzicht auf makroökonomisches Denken fatal.
Michael Wendl ist Soziologe, Mitglied der deutschen Keynes-Gesellschaft, er hat von 1980 bis 2016 für die Gewerkschaften ÖTV und ver.di gearbeitet.